Rz. 36

Mit der Qualifikation hängt die Anknüpfung der Vorfrage eng zusammen. Bei der Anwendung der materiellrechtlichen Rechtssätze können nämlich sog. vorgreifliche Rechtsfragen auftreten, die unter den Systembegriff einer anderen Kollisionsnorm fallen.[65]

Beispiel: So unterliegt die Prüfung der Wirksamkeit einer Eheschließung durch zwei Italiener dem gem. Art. 13 Abs. 1 EGBGB bestimmten italienischen Recht; dieses wiederum wirft die Frage auf, ob eine zuvor in Deutschland in kanonischer Form eingegangene Ehe des Ehemannes wirksam geschlossen worden und durch das italienische Gericht wieder wirksam geschieden worden ist. Diese Fragen werden von der Verweisung des anhand der zweiten Eheschließung angewandten Art. 13 EGBGB nicht mehr erfasst. Vielmehr wäre für die damalige Eheschließung und die damalige Scheidung jeweils gesondert das Eheschließungsstatut bzw. das Scheidungsstatut zu bestimmen.

 

Rz. 37

Bei diesen präjudiziellen Rechtsverhältnissen handelt es sich um sog. Vorfragen.[66] Es ist allgemein anerkannt, dass diese nicht unmittelbar vom für die "Hauptfrage" maßgeblichen Recht zu beantworten sind, sondern das einschlägige Recht durch eine weitere Anknüpfung zu bestimmen ist. In diesem Zusammenhang ist erstmalig von Melchior[67] und Wengler[68] die Frage aufgeworfen worden, ob die Verweisung für die Hauptfrage auf ein ausländisches Recht zugleich bedeute, dass auch das auf die von diesem Recht aufgeworfenen Vorfragen anwendbare Recht nach dem Kollisionsrecht des Rechtssystems zu bestimmen ist, das für die Entscheidung der Hauptfrage zuständig ist. Es wäre so dasselbe Recht anzuwenden, das die Gerichte des Staates anwenden würden, auf dessen Recht wir für die Entscheidung der Hauptfrage verwiesen haben (sog. unselbstständige Anknüpfung der Vorfrage).[69] Vorteil wäre, dass die Hauptfrage im Ergebnis tatsächlich so entschieden würde, wie ein Gericht des Staates entscheiden würde, auf dessen Recht das deutsche IPR verwiesen hat ("äußerer Entscheidungseinklang").

Beispiel (Fortsetzung): Im o.a. Beispiel wäre dann das Bestehen der ersten Ehe nicht anhand des gem. Art. 13 EGBGB bestimmten Rechts, sondern ausgehend vom italienischen IPR zu prüfen. Gemäß Art. 13 Abs. 3 S. 1 EGBGB wäre die Ehe wohl formnichtig, da sie nicht vor dem Standesbeamten geschlossen wurde. Aus italienischer Sicht mag die Beachtung der vom italienischen Heimatrecht verlangten Form ausreichend gewesen sein. Folge wäre dann, dass die erste Ehe aus deutscher Sicht zwar nicht besteht, also auch nicht geschieden werden könnte, aber dennoch einer erneuten Eheschließung in Deutschland entgegenstände.

 

Rz. 38

Um einen derartigen Widerspruch zu vermeiden, wird daher von der weit überwiegenden Ansicht in der Lehre die selbstständige Vorfragenanknüpfung vertreten. Vorfragen sind daher auch dann, wenn sie im Rahmen der Anwendung einer ausländischen Vorschrift auftauchen, stets nach dem vom deutschen IPR bestimmten Recht zu entscheiden.[70] Die Rspr. folgt dem grundsätzlich.[71] Freilich ist die Linie hier nicht ganz einheitlich. Wo es "sachgerecht" bzw. "sachnäher" erscheint, wird hier auch einmal unselbstständig angeknüpft.[72]

 

Rz. 39

Ausnahmen von der selbstständigen Vorfragenanknüpfung:

Soll der gesetzliche Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit geprüft werden, so sind die vom ausländischen Staatsangehörigkeitsrecht verlangten Statusverhältnisse unter Zugrundelegung des IPR dieses ausländischen Staates zu prüfen.[73] Freilich ist diese Ausnahme keine, denn die Vorfrage taucht im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Hauptfrage auf.
Umstritten ist, ob dies auch bei der Anwendung des ausländischen Heimatrechts im Namensrecht gilt (Art. 10 Abs. 1 EGBGB). Nur so kann man den Gleichklang mit den Eintragungen in den ausländischen Ausweispapieren etc. erreichen.[74]
Vielfach wird auch vorgetragen, in internationalen Abkommen bzw. bei Anwendung einer der europäischen Verordnungen zum IPR sei stets unselbstständig anzuknüpfen, um die gewünschte Einheitlichkeit zu erreichen – auch dies ist allerdings heftig umstritten.
Ein weiterer Fall ergibt sich daraus, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem KindRG 1997 die nichteheliche Abstammung in seiner Gleichsetzungseuphorie gleich auch aus dem EGBGB verbannt hat. Differenziert ein ausländisches Gesetz nach ehelicher und nichtehelicher Abstammung, so haben wir es daher mit einer Vorfrage zu tun, für die im deutschen IPR eine Kollisionsnorm fehlt. Erwogen wird daher, diesen Mangel durch Heranziehen der entsprechenden Kollisionsnorm des ausländischen Rechts zu reparieren.[75]
[65] Soergel/Kegel, 12. Aufl. 1996, Vor Art. 3 EGBGB Rn 128 ff.
[66] In der Literatur wird teilweise eine weitergehende Differenzierung in "Erstfrage" und "Vorfrage" vorgenommen (MüKo-BGB/von Hein, 8 Aufl. 2020, Einl. IPR Rn 159; Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Lorenz, 4. Aufl. 2020, Einl. IPR Rn 66; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 130), wobei freilich das Ergebnis nicht differiert (Staudinger/Sturm/Sturm, 2003, Einl. ...

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