Rz. 40
Der gewöhnliche Aufenthalt erlangt als Anknüpfungspunkt für die persönlichen Verhältnisse zunehmend an Bedeutung. Seinen Siegeszug begann er nach dem Zweiten Weltkrieg, als er in den neu geschaffenen Konventionen der Haager Konferenz die bis dahin dominierende Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ablöste. Im deutschen autonomen Kollisionsrecht war er zunächst im Wesentlichen als subsidiäres Anknüpfungsmerkmal bedeutsam, wenn die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit versagte, wie z.B. bei Staatenlosen (Art. 5 Abs. 2 EGBGB) oder später bei Eheleuten mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB). Im Rahmen der Reform des internationalen Kindschaftsrechts 1998 fand er auch als "primäres Anknüpfungsmerkmal" Eingang in das deutsche IPR (Art. 19, 20, 24 EGBGB).
Rz. 41
Die Gründe für die zunehmende Akzeptanz sind vielfältig. Auf der Haager Konferenz lag sicherlich ein besonderer Reiz dieses Anknüpfungspunktes darin, dass er sich als Kompromiss – gewissermaßen als goldener Mittelweg – zwischen Staatsangehörigkeitsanknüpfung auf der einen und Domizil- bzw. Wohnsitzanknüpfung auf der anderen Seite insbesondere dazu anbot, die Staaten mit angloamerikanischem Recht zur Ratifikation der Konventionen auf familien- und erbrechtlichem Gebiet zu bewegen. Ausschlaggebend mag aber wohl die Vorstellung gewesen sein, dass im Gefolge der für die Nachkriegszeit typischen Migration innerhalb Europas (Gastarbeiterfälle) die Fälle zunahmen, in denen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nicht mehr zwangsläufig zu dem Recht führt, mit dem der Betroffene wirklich am engsten verbunden ist. Das gilt umso mehr, als nach dem Zweiten Weltkrieg gesellschaftlich bedingte und weitgehende Umwandlungen im Familienrecht einsetzten, die dauerhaft im Ausland lebende Personen nicht unbedingt mit nachvollziehen konnten. Vielmehr war davon auszugehen, dass diese Gruppe eher an den gesellschaftlichen Prozessen partizipieren, die in ihrem Aufenthaltsstaat zu entsprechenden Umwälzungen führen bzw. diese begleiten.
Rz. 42
Freilich zeigt sich in neuerer Zeit eine vermehrte internationale Mobilität in vielfältigen Formen, bei der die Verlagerung des Lebensmittelpunkts in einen anderen Staat mit der Beibehaltung der Verbundenheit zum Recht des "Heimatstaates" verbunden ist (berufliche Versetzung, konjunkturell bedingte Arbeitsaufnahme im Ausland mit Rückkehrwillen bei Besserung der wirtschaftlichen Situation, Studium im Ausland, Altersruhesitz in Mallorca ohne soziale Integration etc.). Damit stellt sich die Frage, ob die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt auch im Europa des 21. Jahrhunderts noch für alle familienrechtlichen Verhältnisse angemessen ist.
Rz. 43
Im deutschen autonomen IPR hat der gewöhnliche Aufenthalt bislang nur zögerlich Eingang gefunden. Die subsidiäre Geltung in Art. 5 und Art. 14 EGBGB spricht eher für als gegen die Dominanz des Staatsangehörigkeitsprinzips. Die Aufnahme als vollwertiges Anknüpfungsmoment in Art. 18 Abs. 1 EGBGB (IPR-Reform 1986) und in Art. 19 Abs. 1 S. 1, Art. 19 Abs. 1, Art. 20 S. 2, Art. 21 durch das KindRG 1998 war durch die Ratifikation des Haager Unterhaltsabkommens bzw. weitgehend durch eine Angleichung des Kindschafts-Kollisionsrechts an das MSA und nicht durch einen Paradigmenwechsel bedingt. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass auf diese Weise die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zumindest schleichend als Prinzip verliert.
Rz. 44
Eine überragende Bedeutung erlangt der gewöhnliche Aufenthalt durch die Vereinheitlichung des internationalen Familienrechts aus Brüssel. Auch wenn die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit für die persönlichen Rechtsverhältnisse in Bezug auf die Europäischen Grundfreiheiten keinen durchgreifenden Bedenken begegnet, erscheint es vor dem Hintergrund der Unionsbürgerschaft vorteilhaft, statt an die Staatsangehörigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt anzuknüpfen. Letzterer war bereits für die Begründung der internationalen Zuständigkeit in der Brüssel IIa-VO (siehe Rdn 251) vorrangig entscheidender Faktor. Die Rom III-VO, die Unterhaltsverordnung, die EUGüVO und schließlich auch die EuErbVO vom 4.7.2012 gehen ebenfalls vom gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt aus. Für alle weiteren künftigen einheitlichen Maßnahmen auf dem Gebiet des internationalen Familien- und Erbrechts ist gleichermaßen damit zu rechnen, dass der gewöhnliche Aufenthalt eine dominante Rolle spielen wird.
Rz. 45
Von Verfechtern des gewöhnlichen Aufenthalts wird gerne auf die Probleme verwiesen, die die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit bei mehrfacher Staatsangehörigkeit oder Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Staatsangehörigkeit mit sich bringe. Freilich lassen sich diese Fälle – auch wenn die Mehrstaatigkeit nun zunehmend hingenommen wird – gut lösen. Die Hilfskollisionsnormen in Art. 5 EGBGB – die es in ähnlicher Weise auch in anderen Rechtsordnungen gibt – verhelfen hier zu einem eindeutigen Ergebnis. Verbleibende Dissonanzen ließen ...