aa) Definition

 

Rz. 48

Anders als die Stellungnahmen gegen die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit vermuten lassen, ist die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht einfacher als die Feststellung der maßgeblichen Staatsangehörigkeit. Grund dafür ist unter anderem schon, dass es eine gesetzliche Definition des gewöhnlichen Aufenthalts für das Internationale Privatrecht (anders als z.B. im Steuerrecht, vgl. § 9 AO) nicht gibt. Daher sind viele Einzelfragen, zum Teil sogar grundsätzliche Fragen, immer noch umstritten. Die bislang ergangene Rspr. ist nur eingeschränkt verwertbar, da sie sich bislang weit überwiegend auf den gewöhnlichen Aufenthalt von Minderjährigen im Rahmen des MSA bzw. der Brüssel IIa-VO bezog und daher nicht direkt auf Erwachsene, die ihren Aufenthalt autonom bestimmen, übertragen werden kann. So versuchte der EuGH, den gewöhnlichen Aufenthalt in einer Entscheidung vom 2.4.2009[81] wie folgt allgemeinverbindlich zu definieren:

Zitat

"Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt ist der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen."

 

Rz. 49

Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts verlangt nach allgemeiner Ansicht die Erfüllung zweier Voraussetzungen:

[81] EuGH Rs. C 523/07 – Rechtssache "A", FamRZ 2009, 843.

bb) Auf Dauer angelegter Aufenthalt

 

Rz. 50

Der BGH stellt in seiner Rspr. darauf ab, dass der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungskriterium an die Stelle der Staatsangehörigkeit getreten ist. Daher müsse ein Aufenthalt von einer Dauer verlangt werden, die im Unterschied von dem einfachen oder schlichten Aufenthalt nicht nur gering oder vorübergehend sein dürfe.[82] Dies freilich bedeutet nicht, dass bei Wechsel des Aufenthalts der gewöhnliche Aufenthalt erst nach einer gewissen Zeitdauer eintreten kann. Vielmehr führt die Begründung des neuen Aufenthalts schon dann zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts, wenn sich aus den Umständen ergebe, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Dauer angelegt ist und der neue Aufenthaltsort künftig an die Stelle des bisherigen Daseinsmittelpunkts treten solle.[83]

 

Rz. 51

Das Zeitmoment spielt regelmäßig nur eine untergeordnete, allenfalls indizierende Rolle. Zwar wird als Faustformel davon ausgegangen, dass regelmäßig eine Dauer von sechs Monaten erforderlich sei.[84] Zu beachten ist jedoch, dass diese Rspr. zum MSA ergangen ist. Bei Minderjährigen, die u.U. schon nach einem halben Jahr die Sprache ihres neuen Wohnortes sprechen, geht jedoch die Integration besonders schnell vor sich. Bei Erwachsenen gilt hier anderes. Allerdings dürfte ein zweijähriger Aufenthalt regelmäßig genügen, um die Vermutung für einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen.[85]

 

Rz. 52

Einen umstrittenen Spezialfall stellen die Ausländer dar, die sich im Inland ohne einen Aufenthaltstitel aufhalten (z.B. unberechtigte oder abgelehnte Asylbewerber; aus Osteuropa, China oder Afrika illegal "Eingeschleuste"). Hier wird vertreten, wegen der bevorstehenden Abschiebung könne im Inland kein gewöhnlicher Aufenthalt entstehen.[86] Allerdings überwiegt im Rahmen des gewöhnlichen Aufenthalts die normative Kraft des Faktischen: Leben die Beteiligten mehrere Jahre im Inland und sind sie hier in die soziale Umwelt integriert, liegt ein gewöhnlicher Aufenthalt vor, der auch nicht mehr dadurch entfällt, dass die Ausweisung angeordnet wurde. Dies gilt zumindest dann, wenn sie bislang durch die Ausländerbehörde im Inland geduldet wurden oder sich erfolgreich der Abschiebung durch die staatlichen Stellen entzogen haben.[87] Wie will man hier auch die Beteiligten auf den Staat verweisen, dem sie – möglicherweise schon vor einigen Jahren – endgültig den Rücken gekehrt haben?

[82] BGH NJW 1975, 1068; NJW 1993, 2049.
[83] BGH NJW 1981, 520.
[84] BGH NJW 1997, 3024; OLG Hamm NJW 1992, 637; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1996, 1749.
[85] Z.B. Spickhoff, IPRax 1995, 187, der betont, dass einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten noch keine Indizwirkung für die soziale Integration zukomme.
[86] OLG Bremen FamRZ 1992, 962; OLG Karlsruhe FamRZ 1990, 1351.
[87] So OLG Nürnberg FamRZ 2003, 324; OLG Hamm NJW 1990, 651; OLG Karlsruhe FamRZ 1992, 316; Erman/Hohloch, 15. Aufl. 2017, Art. 5 EGBGB Rn 50; Palandt/Thorn, 79. Aufl. 2020, Art. 5 EGBGB Rn 10.

cc) Familiäre und soziale Integration

 

Rz. 53

Zusätzlich zu dem Aufenthalt von längerer Dauer wird das Vorhandensein weiterer Beziehungen – speziell in familiärer, beruflicher oder sonstiger Hinsicht – zum Aufenthaltsort verlangt, aus denen insbesondere im Vergleich mit ...

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