Rz. 54

Ein Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensinteressen zu machen, ist nicht erforderlich.[93] Hierin liegt der wesentliche Unterschied zum Wohnsitz, der sowohl in der "kontinentalen" Form als auch – und das dort in ganz besonderem Maße – in der Form des englischen domicile einen Willen zur Niederlassung verlangt. Natürlich wird man in der Regel nur dann bejahen können, dass der Aufenthalt auf Dauer angelegt ist, wenn aus den Umständen hervorgeht, dass die betroffene Person sich auf Dauer einrichtet, weil dieser Ort künftiger Daseinsmittelpunkt sein soll. Dies setzt nicht nur die Aufgabe eines bisher bestehenden gewöhnlichen Aufenthalts in einem anderen Gebiet voraus, sondern auch einen entsprechenden Willen zum Bleiben. Auch wenn ein "subjektiver Tatbestand" nicht vorausgesetzt oder geprüft wird, wird dieser also dennoch meist gegeben sein.[94]

 

Rz. 55

Hinweis: In beweisrechtlicher Hinsicht jedoch bringt der gewöhnliche Aufenthalt hier erhebliche Erleichterungen: Während der Nachweis des Willenselements beim Wohnsitz erhebliche Schwierigkeiten bereitet und regelmäßig erfolgen muss, indem mittelbar aus den objektiven Umständen auf eine entsprechende Absicht des Betroffenen geschlossenen wird, sind beim gewöhnlichen Aufenthalt die objektiven Umstände allein schon ausreichend, können also unmittelbar das Bestehen des gewöhnlichen Aufenthalts begründen.

 

Rz. 56

Umstritten ist, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt auch gegen den Willen des Betroffenen begründet werden kann. Einige Autoren verweisen auf die Maßgeblichkeit ausschließlich der objektiven Umstände und bejahen dies.[95] Andere wollen insoweit den entgegenstehenden Willen respektieren.[96] Freilich wird jemand, der sich im Ausland als Soldat in einer geschlossenen Kaserne, als Kriegsgefangener in einem Gefangenenlager, als Sträfling im Gefängnis oder als Patient in einer Heilanstalt aufhält, schon wegen seiner Eingeschlossenheit regelmäßig keinerlei Möglichkeit zur Integration haben, so dass er dort auch keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann (vgl. Rdn 48).[97] Solange daher noch Beziehungen zum alten Aufenthaltsort, die eine Anknüpfung hieran für gerechtfertigt erscheinen lassen, fortbestehen, ist daher vom Fortgelten des alten gewöhnlichen Aufenthalts auszugehen.

[93] BGHZ 78, 293; BGH NJW 1993, 2048.
[94] Für eine stärkere Berücksichtigung des subjektiven Elements spricht sich z.B. Weller aus, Der "gewöhnliche Aufenthalt" – Plädoyer für einen willenszentrierten Aufenthaltsbegriff, in Leible/Unberath, Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung, 2013, S. 293 ff.
[95] Raape/Sturm, Internationales Privatrecht I, 6. Aufl. 1977, S. 131.
[96] Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2004, S. 286.
[97] Vgl. auch Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Lorenz, 4. Aufl. 2020, Art. 5 EGBGB Rn 15.

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