Rz. 58
Während nach deutschem Recht ein mehrfacher Wohnsitz zulässig ist, ist umstritten, ob eine Person zur gleichen Zeit einen gewöhnlichen Aufenthalt an mehreren Orten haben kann. M.E. ist der "Lebensmittelpunkt" als maßgebliches Element des gewöhnlichen Aufenthalts weder teilbar noch vermehrbar, so dass eine Person zur selben Zeit auch nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthalt haben kann. Zuzugeben ist jedoch, dass zunehmende Permeabilität der Landesgrenzen in Europa und die erleichterte Mobilität vermehrt zu Sachverhalten führen, in denen Beteiligte Niederlassungen vergleichbarer Bedeutung in verschiedenen Staaten haben, so dass die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts schwierig werden kann. Beispiele:
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Fährt ein Schweizer jeden Tag zur Arbeit nach Deutschland, wohnt aber in der Schweiz, liegt sein gewöhnlicher Aufenthalt weiterhin in der Schweiz, weil er hier seinen familiären und gesellschaftlichen Hintergrund hat. |
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Arbeitet ein Pole in Westdeutschland, um mit den besseren Verdienstmöglichkeiten das Haus in Kattowitz zu finanzieren, in dem seine Frau und Kinder leben, so wird er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Polen beibehalten, auch wenn er nur ein Mal im Monat seine Familie besucht (Wochenendheimfahrer). Zweifelhaft wird diese Einordnung aber, wenn er seine Familie nur noch zu den Festtagen, im Urlaub und an vereinzelten Wochenenden besucht oder in Deutschland mit einer Lebensgefährtin zusammenlebt. Ein Teil der Literatur will im letzteren Fall im Zweifel den Schwerpunkt am Arbeitsort annehmen. Zwar muss ein Aufenthalt nicht dauerhaft sein, auch ein vorübergehender Aufenthalt kann einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen. Soweit der Wochenendheimfahrer jedoch am Arbeitsort fremd bleibt und keine Wurzeln schlägt, wird man den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen weiterhin am Familienwohnsitz ansiedeln müssen. |
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Bezieht dagegen eine niederländische Familie nahe der niederländischen Grenze ein Haus in Deutschland, weil die Grundstücke hier billiger sind, so bleibt der gewöhnliche Aufenthalt in den Niederlanden erhalten, solange die Eltern dort arbeiten und dort ihre Freunde wohnen. Die Situation mag sich dann ändern, wenn die Kinder hier in die Schule und den Kindergarten gehen und die Familie zunehmend in Deutschland gesellschaftlich eingebunden wird (Sportverein, Freundeskreis etc.). Eindeutige Ergebnisse sind hier in der Übergangsphase kaum zu erreichen. Die "Eindeutigkeit" freilich ist das Opfer, das man für die Aufgabe der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit erbracht hat. |
Rz. 59
Einige Nordeuropäer behalten ihre Wohnung in der kalten Heimat zwar bei, verbringen aber die dunkle Hälfte des Jahres im Süden ("Mallorca-Rentner"). Hier mag selbst dann, wenn sie im Süden mehr als 180 Tage des Jahres verbringen und dort über eigene vier Wände verfügen, immer noch eine gewisse Vermutung für den Lebensmittelpunkt in dem Land sprechen, in dem sie immerhin sechzig Jahre oder mehr ihres Lebens verbracht haben, in dem die Familie und Freunde leben und dessen Sprache und Kultur sie verinnerlicht haben. Hinzu kommt eine mit dem Alter zunehmende innere "Trägheit", die das erforderliche Zeitelement verlängert. Angemessen dürfte es hier sein, eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts erst dann anzunehmen, wenn der Schwerpunkt eindeutig nach Süden verlagert ist und die jährlichen Aufenthalte in der alten Heimat nur noch "Besuchscharakter" haben.
Rz. 60
Im äußersten Fall kann man in einem solchen Fall einen "alternierenden gewöhnlichen Aufenthalt" annehmen. Freilich erscheint dies in der genannten Konstellation gekünstelt, da eine halbjährliche Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts einem gewaltigen Wechselbad gleichkäme. Die unterschiedliche rechtliche Behandlung der Ereignisse, je nachdem, ob sich der Betreffende gerade an seinem Winter- oder seinem Sommeraufenthalt befunden hat, mag dem Beteiligten zufällig erscheinen. Eine vorzugswürdige Lösung liegt darin, einen vorschnellen Statutenwechsel durch eine stärkere Berücksichtigung des Integrationsfaktors zu verhindern.
Rz. 61
Zweifelhaft ist, ob eine Person ohne gewöhnlichen Aufenthalt sein kann. Das wäre allenfalls dann denkbar, wenn sie ihren bisherigen Aufenthalt ohne Rückkehrabsicht aufgegeben, aber noch keinen neuen begründet hat, wie dies bei einem Flüchtling der Fall ist oder einem Auswanderer der Fall wäre, der seinen Zielort noch nicht erreicht hat.