Rz. 104
Ein "unangemessenes" Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts kann gem. Art. 6 EGBGB (Vorbehaltsklausel, ordre public) korrigiert werden, wenn das Ergebnis offensichtlich mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere den Grundrechten unvereinbar ist. Eine gleichartige Regelung enthalten auch alle europäischen Rechtsakte zum internationalen Kollisionsrecht (z.B. Art. 21 Rom I-VO, Art. 26 Rom II-VO, Art. 12 Rom III-VO, Art. 35 EuErbVO, Art. 31 EUGüVO und EUPartVO). Solche Fälle tauchen insbesondere im Familienrecht auf. Das Bedürfnis nach einer derartigen "Notbremse" gegen ausländisches Recht besteht z.B. bei der einseitigen Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann nach islamischen Recht, bei Ehehindernissen aus rassischen oder religiösen Gründen, der gesetzlichen Vertretung der Ehefrau durch den Ehemann etc.
Dabei ergeben sich für den Einsatz des ordre public folgende allgemeinen Voraussetzungen:
1. Nur das Ergebnis der Rechtsanwendung ist Prüfungsgegenstand
Rz. 105
Allein das Ergebnis der Rechtsanwendung ist Gegenstand der Kontrolle. Da der ausländische Gesetzgeber nicht deutschem Verfassungsrecht unterliegt, ist eine abstrakte Kontrolle der Regeln des ausländischen Erbrechts anhand der deutschen Grundrechte nicht möglich. "Ergebnis der Rechtsanwendung" bedeutet insbesondere, dass sämtliche Möglichkeiten des ausländischen Sachrechts wie auch des deutschen IPR auszuschöpfen sind: Die einseitige Verstoßung der deutschen Ehefrau durch ihren muslimischen Ehemann (talaq) ist daher anzuerkennen, wenn die Ehefrau ebenfalls mit der Scheidung einverstanden war oder aber wegen Zerrüttung der Ehe auch nach deutschem Recht auf einseitigen Antrag des Ehemannes die Ehe hätte geschieden werden müssen. In gleicher Weise hat das OLG Celle das Fehlen eines Betreuungsunterhalts nach iranischem Familienrecht für nicht ordre public-widrig gehalten in einem Fall, in dem das Kind so alt war, dass es schon zur Schule ging.
2. Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts
Rz. 106
Das Ergebnis muss mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar sein. Es genügt also nicht, dass das Ergebnis nach deutschem Recht anders oder entgegengesetzt lauten würde (also z.B. die geschiedene Ehefrau keinen Unterhaltsanspruch erhält oder die Volljährigenadoption ausgeschlossen ist). Das Ergebnis muss vielmehr "so anstößig sein und mit den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehen, dass es untragbar erscheint". Damit ist der ordre public gerade im Familienrecht einem starken zeitlichen Wandel ausgesetzt. Was vor zwanzig Jahren noch zu den tragenden Säulen der deutschen Rechtsordnung zählte, hat man jetzt vielleicht schon stillschweigend aufgegeben.
Beispiele: Der BGH hat es nun für inakzeptabel gehalten, wenn zwei in Deutschland lebende syrische Staatsangehörige katholischen Glaubens entsprechend den Grundsätzen des für sie geltenden kanonischen Eherechts nicht geschieden werden können. Im Ausland ausgesprochene Adoptionen werden nunmehr im Inland nur noch dann anerkannt, wenn nachgewiesen werden kann, dass das Gericht auch das Kindeswohl geprüft hat.
Rz. 107
In anderen Bereichen ist man sensibler geworden. Erfahrungsgemäß ist gerade nach neuen Rechtsentwicklungen die Toleranz gegen abweichende Regelungen besonders gering.
Rz. 108
Im Verhältnis zu anderen Staaten der EU wird der ordre public wohl nicht mehr eingesetzt werden. So ist das Fehlen eines Versorgungsausgleichs im ausländischen Recht nach einer Entscheidung des OLG Frankfurt kein Grund zum Einsatz des ordre public.
3. Örtliche, zeitliche und sachliche Relativität
Rz. 109
Will ein marokkanischer Moslem in Deutschland vor dem deutschen Standesamt eine zweite Frau ehelichen, muss der Standesbeamte dies auch dann zurückweisen, wenn das Heimatrecht der Verlobten dies zulässt und die erste Ehefrau zustimmt. Haben sie allerdings in ihrer Heimat geheiratet, so muss man dies anerkennen und beiden Frauen einen ehelichen Unterhaltsanspruch zusprechen.
4. Keine vorrangige Spezialnorm
Rz. 110
Das internationale Familienrecht besteht zunehmend aus ...