Prof. Dr. Rainer Deininger
Rz. 140
In der Rechtssache van Hilten stellte der EuGH überraschenderweise fest, dass das Gemeinschaftsrecht nicht durch eine niederländische Norm verletzt wird, nach der – ähnlich wie § 4 Abs. 1 AStG – der Übergang des Nachlasses eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes aus dem betreffenden Mitgliedstaat verstorben ist, grundsätzlich so besteuert wird, als wäre er in dem ersten Staat wohnen geblieben.
a) Sachverhalt
Rz. 141
Frau van Hilten, niederländische Staatsangehörige, verstarb am 22.11.1997. Sie hatte bis Anfang 1988 in den Niederlanden, anschließend in Belgien und seit 1991 in der Schweiz gelebt. Ihr Nachlass bestand insbesondere aus in den Niederlanden, in der Schweiz und in Belgien belegenen unbeweglichen Sachen, aus Kapitalanlagen in Form von in den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika notierten Wertpapieren sowie aus Guthaben auf Bankkonten bei niederländischen und belgischen Tochtergesellschaften in der Europäischen Union ansässiger Banken, wobei diese Tochtergesellschaften die Guthaben auch verwalteten. Ihre Erben wurden zur Erbschaftsteuer veranlagt, die auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 SW 1956 berechnet wurde. Diese Steuer wurde nach Einspruch, der von vier der Erben eingelegt worden war, aufrechterhalten. Die vier Erben erhoben gegen diese Entscheidung Klage.
Rz. 142
Im Kern ging es um folgende Frage: Ist Art. 56 EG (Kapitalverkehrsfreiheit) dahingehend auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der der Übergang des Nachlasses eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes aus dem betreffenden Mitgliedstaat verstorben ist, so besteuert wird, wenn auch unter Befreiung in Höhe der von anderen Staaten erhobenen Erbschaftsteuer, als hätte der Erblasser weiter in diesem Mitgliedstaat gewohnt.
b) Entscheidung des EuGH
Rz. 143
Der EuGH hält zum einen fest, dass es sich beim Erwerb von Todes wegen durchaus um Kapitalverkehr im Sinne von Art. 73b EG handelt; ausgenommen sind lediglich die Fälle, die mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.
Rz. 144
Dagegen stellt eine nationale Regelung, nach der der Übergang eines Nachlasses eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der innerhalb von zehn Jahren nach Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland verstorben ist, so besteuert wird, als wäre dieser Staatsangehörige im selben Mitgliedstaat wohnen geblieben, wenn auch unter Befreiung in Höhe der Erbschaftsteuer, die in dem Staat erhoben wird, in den der Verstorbene seinen Wohnsitz verlegt hatte, keine Beschränkung des Kapitalverkehrs dar.
Rz. 145
Dadurch, dass diese Regelung die gleiche Besteuerung des Erwerbs von Todes wegen für Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt haben, und für solche, die im betreffenden Mitgliedstaat geblieben sind, vorsieht, hält sie nämlich weder die Erstgenannten davon ab, von einem anderen Mitgliedstaat aus Investitionen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu tätigen, noch die Letztgenannten davon, von dem betreffenden Mitgliedstaat aus Investitionen in einem anderen Mitgliedstaat zu tätigen; unabhängig davon, wo sich die fraglichen Vermögensgegenstände befinden, mindert sie auch nicht den Wert des Nachlasses eines Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hat. Dass diese Regelung weder die Staatsangehörigen erfasst, die seit mehr als zehn Jahren im Ausland leben, noch diejenigen, die niemals ihren Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat hatten, ist insoweit nicht von Bedeutung. Da sie nur für die Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats gilt, kann sie keine Beschränkung des Kapitalverkehrs in Bezug auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten darstellen.
Rz. 146
Was die Ungleichbehandlung von Gebietsansässigen mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats und solchen mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats angeht, die sich aus einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen ergibt, können derartige, zum Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit getroffenen Unterscheidungen nicht als eine durch Art. 73b EG verbotene unterschiedliche Behandlung angesehen werden. Sie ergeben sich nämlich in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen aus der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen.
Rz. 147
Außerdem hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es für die Mitgliedstaaten nicht sachfremd ist, sich zum Zwecke de...