Prof. Dr. Rainer Deininger
a) Sachverhalt
Rz. 98
Der Kläger (deutscher Staatsangehöriger) war seit dem 1.2.2008 Geschäftsführer und Gesellschafter (50 %) einer Gesellschaft schweizerischen Rechts, die IT-Beratung als Gesellschaftszweck hat. Zum 1.3.2011 verlegte der Kläger seinen Wohnsitz in die Schweiz. Das Finanzamt unterwarf ihn nach § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG der Einkommensteuer auf die latenten Wertzuwächse an seinen Kapitalgesellschaftsanteilen ohne Stundungsmöglichkeit. Der Kläger wehrte sich gegen diese Veranlagung ohne Stundungsmöglichkeit mit der Klage zum FG Baden-Württemberg, da er für sich insbesondere den Schutzbereich des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz als eröffnet sah.
Das FG Baden-Württemberg legte im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH die Frage vor, ob das FZA, insbesondere dessen Präambel sowie die Art. 1, 2, 4, 6, 7, 16 und 21 und Anhang I Art. 9 dahin auszulegen ist, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der – damit kein Besteuerungssubstrat entgeht – latente, noch nicht realisierte Wertsteigerungen von Gesellschaftsrechten (ohne Aufschub) besteuert werden, wenn ein in diesem Staat zunächst unbeschränkt steuerpflichtiger Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats seinen Wohnsitz von diesem Staat in die Schweiz und nicht in einen Mitgliedstaat oder in einen Staat verlegt, auf den das EWR-Abkommen Anwendung findet.
b) Entscheidung des EuGH
Rz. 99
Der EuGH führt in seinem Urteil aus, dass das FZA dahingehend auszulegen ist, dass es einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegensteht, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d.h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.
Vereinfacht zusammengefasst verstößt nach Auffassung des EuGH die Besteuerung nach § 6 AStG a.F. ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer bei einem Wegzug in die Schweiz gegen das vom FZA vorhergesehene Niederlassungsrecht. Eine Rechtfertigung – etwa durch die altbekannten Argumente Wirksamkeit der steuerlichen Kontrolle und die Notwendigkeit einer wirksamen Steuererhebung – kommt nicht in Betracht, eine Stundung des vollständigen Steuerbetrags bis zur Veräußerung der Anteile wäre im Streitfall das adäquate und verhältnismäßige Mittel gewesen.
Rz. 100
Im Unterschied zur nachfolgend besprochenen Entscheidung des EuGH i.S. Kommission/Portugal (siehe Rdn 105) verändert der EuGH in der Sache Wächtler seine Rechtsprechung zur persönlichen Entstrickung und begibt sich wieder ein Stück in Richtung der in der Entscheidung i.S. de Lasteyrie du Saillant verwendeten Argumentation. So schränkt der EuGH insbesondere die in der Entscheidung i.S. Kommission/Portugal eröffnete Möglichkeit, die auf die stillen Reserven entfallende Steuer gestreckt auf fünf Jahre zu zahlen, wieder ein.
c) Entscheidung des FG Baden-Württemberg
Rz. 101
Das FG Baden-Württemberg entschied nach der Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage zugunsten des Steuerpflichtigen. Die Revision ist beim BFH anhängig.
d) Reaktion des BMF
Rz. 102
Das BMF hat in einem Schreiben von Ende 2019 zum EuGH-Urteil i.S. Wächtler Stellung genommen und verfügt, dass das Urteil abweichend von § 6 Abs. 4 S. 1 AStG a.F. so anzuwenden ist, dass auf Antrag des Steuerpflichtigen eine Stundung in fünf gleichen Jahresraten vorzunehmen ist, die zwar nach § 234 AO zu verzinsen sind. Dabei komme es aber nicht darauf an, ob die alsbaldige Einziehung eine erhebliche Härte darstellen würde. Auch eine Sicherheitsleistung sei nicht erforderlich, außer wenn der Steueranspruch gefährdet erscheint (z.B. mangels Beitreibungshilfe). Diese vom BMF gezogenen Konsequenzen überraschen doch sehr, liest man das EuGH-Urteil i.S. Wächtler genau und zieht die Rechtsprechung der Finanzgerichte Düsseldorf und Köln zu den Stundungszinsen im Zusammenhang mit § 6 AStG a.F. zu Rate.
Rz. 103
Der EuGH führt explizit aus, dass eine Zahlung der geschuldeten Steuer in Teilbeträgen (unabhängig davon, ob nun eine erhebliche Härte bei sofortiger Einziehung vorläge oder nicht) keine Rechtfertigung für Verstöße gegen das auf dem FZA basierende Niederlassungsrecht darstellen kann, was auch für die europarechtlich garant...