Prof. Dr. Rainer Deininger
Rz. 43
Der EuGH entschied im Hinblick auf die erste Vorlagefrage, dass in der unterschiedlichen Freibetragsregelung zwar eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zu erkennen sei, diese jedoch durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, gerechtfertigt sei. Die deutsche Regelung stelle den für eine Rechtfertigung notwendigen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Freibetrag, den der Erbe geltend machen kann, und dem Umfang der Steuerhoheit in Bezug auf die sich für ihn aus dem Erwerb ergebende Bereicherung her. Diese Regelung vermeide daher, dass die Steuerkraft eines beschränkt steuerpflichtigen Erben dadurch, dass es ihm gestattet wird, den Freibetrag in voller Höhe in Anspruch zu nehmen, obwohl sich dieser Freibetrag nicht auf eine steuerliche Belastung bezöge, die auf die gesamte aus der Erbübertragung resultierende Bereicherung erhoben wird, systematisch zu niedrig angesetzt wird.
Rz. 44
Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass durch die Verweigerung der Anerkennung der Pflichtteilsansprüche als Nachlassverbindlichkeiten eine Beschränkung des Kapitalverkehrs vorliege. Im Gegensatz zur Freibetragsregelung ist diese Beschränkung jedoch weder mit der Notwendigkeit, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu wahren, noch mit dem Territorialitätsprinzip und der Notwendigkeit der Gewährleistung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. Der EuGH führt dazu aus, dass sich die Ungleichbehandlung in Bezug auf die Abzugsfähigkeit der Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen allein aus der Anwendung der betreffenden deutschen Regelung ergibt. Außerdem habe die deutsche Regierung nicht dargelegt, weshalb die Berücksichtigung der Verpflichtungen aus Pflichtteilen, wenn diese mit Immobilien in Zusammenhang stehen, über die Deutschland ihre Steuerhoheit im Rahmen einer Teilbesteuerung ausübt, diesen Mitgliedstaat dazu bringen würde, auf einen Teil dieser Steuerhoheit zugunsten anderer Mitgliedstaaten zu verzichten, oder die Besteuerungsbefugnis dieses Mitgliedstaats beeinträchtigen würde.
Rz. 45
Der EuGH sieht in der Versagung des Abzugs von Pflichtteilen im Bereich der Nachlassverbindlichkeiten bei beschränkter Erbschaftsteuerpflicht eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit. Die grundsätzlich unterschiedliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Freibeträge bei unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht ist dem EuGH zufolge jedoch europarechtskonform.
Wird in Deutschland Vermögen i.S.v. § 121 BewG vererbt, sind Erblasser und Erbe aber nicht in Deutschland ansässig, greift in Deutschland die beschränkte Erbschaftsteuerpflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG. Mit Beschluss vom 20.7.2020 meldete das FG Düsseldorf Zweifel an der Unionrechtsvereinbarkeit der Freibetragsregelung für beschränkt Steuerpflichte und an der (Nicht-)Abzugsfähigkeit von Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen als Nachlassverbindlichkeiten an.
In der ersten Vorlagefrage erkundigte sich das FG Düsseldorf, ob § 16 Abs. 2 ErbStG, nachdem beschränkt Steuerpflichtigen ein Freibetrag lediglich im Verhältnis des in Deutschland steuerpflichtigen Erwerbs zum Gesamterwerb zusteht, mit Europarecht vereinbar ist. Der EuGH sieht in der Regelung zwar eine Beschränkung des Kapitalverkehrs, diese sei jedoch durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, gerechtfertigt und folglich unionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Die zweite Vorlagefrage betraf § 10 Abs. 6 S. 2 ErbStG, wonach nur die mit dem in Deutschland steuerpflichtigen Vermögen in wirtschaftlichem Zusammenhang stehenden Schulden und Lasten abzugsfähig sind. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Pflichtteile bei beschränkt Steuerpflichtigen nicht mindernd berücksichtigt werden, während unbeschränkt Steuerpflichtige diese als Nachlassverbindlichkeiten nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG abziehen können. Hierin sieht der EuGH eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs. Im Gegensatz zur Freibetragsregelung könne diese Beschränkung weder mit der Wahrung der Kohärenz des deutschen Steuersystems noch mit dem Territorialitätsprinzip und der Notwendigkeit der Gewährleistung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden.