Rz. 135
Eine besondere Vertrauensschutzregelung enthält Art. 83 Abs. 4 EuErbVO: Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem Anwendungsstichtag für die EuErbVO nach dem Recht errichtet, welches der Erblasser "gemäß dieser Verordnung hätte wählen können", so gilt dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht. Während sich Art. 83 Abs. 3 EuErbVO um das Errichtungsstatut für Verfügungen von Todes wegen kümmert, betrifft Art. 83 Abs. 4 EuErbVO das effektive Erbstatut. Diese Regelung unterstellt eine Rechtswahl ohne Rücksicht darauf, ob sich der Erblasser über die Frage des anwendbaren Rechts Gedanken gemacht hat. Daher handelt es sich um keine stillschweigende Rechtswahl, sondern um eine "Fiktion".
Rz. 136
Beispiel:
Ein in der Toskana lebender deutscher Rentner lässt 1996 mit seiner Ehefrau in Münster ein gemeinschaftliches Testament beurkunden. Die Tochter der beiden ist behindert, lebt in Deutschland in einer entsprechenden Einrichtung und erhält Sozialhilfe. Das gemeinschaftliche Testament der beiden ordnet daher Nacherbfolge und Testamentsvollstreckung nach dem Muster des "Behindertentestaments" an. Testamentsvollstrecker und Nacherbe soll der in Göttingen lebende Sohn der Eheleute werden. Der Ehemann ist 2001 verstorben. Die Ehefrau stirbt am 1.10.2015 in dem Wohnhaus der Familie in der Nähe von Vinci.
Rz. 137
Was die Erbfolge nach dem Ehemann angeht, so gilt hier über Art. 83 Abs. 1 EuErbVO das vormalige nationale Recht. Insoweit kommt aus deutscher Sicht gem. Art. 25 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 5 S. 1 EGBGB a.F. für die Wirksamkeit des Testaments und die Erbfolge im Übrigen wegen der Staatsangehörigkeit des Ehemannes das deutsche Recht zur Anwendung. Gleiches ergibt sich aus Art. 46 Abs. 1 des italienischen IPR-Reformgesetzes vom 31.5.1995.
Rz. 138
Was die Erbfolge nach der am 1.10.2015 nachverstorbenen Ehefrau angeht, so kann für die materielle Wirksamkeit des gemeinschaftlichen Testaments über Art. 83 Abs. 3 EuErbVO – statt des gem. Art. 24 Abs. 1 EuErbVO geltenden italienischen Rechts (gewöhnlicher Aufenthalt der Eheleute bei Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments) – zur Wirksamkeit das sich aus dem damaligen gemeinsamen Heimatrecht-IPR (Art. 25 Abs. 1 EGBGB a.F.) geltende deutsche Erbrecht angewandt werden. Die Wirkungen des Testaments auf die Erbfolge nach dem Tod der Ehefrau freilich würden gem. Art. 83 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 EuErbVO dem italienischen Erbrecht unterliegen, sollte die Ehefrau zum Zeitpunkt ihres Todes ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien beibehalten haben.
Rz. 139
Das italienische Recht kennt ebenfalls die "Testamentsvollstreckung" und die Vor- und Nacherbfolge (sostituzione fedecomissaria). Der Testamentsvollstrecker kann aber nicht über den Nachlass verfügen und beschränkt insbesondere nicht den Zugriff der Gläubiger des Vorerben auf den Nachlass. Nacherbschaft kann nur in Spezialfällen angeordnet werden. Die von den Eheleuten getroffenen Anordnungen würden bei Geltung italienischen Erbrechts daher voraussichtlich nicht den Nachlass in der beabsichtigten Weise dem Zugriff des deutschen Sozialhilfeträgers entziehen. Angesichts dieser Situation kann die Verfügung also wohl nur nach dem deutschen Recht errichtet worden sein. Dieses Recht konnte die überlebende Ehefrau auch gem. Art. 22 Abs. 1 EuErbVO wählen. Damit unterliegt die Erbfolge nach ihrem Tode gem. Art. 83 Abs. 4 EuErbVO dem deutschen Recht.
Rz. 140
Die Fiktion greift unabhängig davon ein, ob nach den Umständen bei Errichtung des Testaments das wählbare Heimatrecht überhaupt gegolten hätte. Haben also die Eheleute damals nicht in der Toskana, sondern in den französischen Pyrenäen gelebt, so wäre auf die Erbfolge nach der Ehefrau das deutsche Heimatrecht anwendbar, auch wenn sowohl nach dem zum Zeitpunkt der Errichtung im damaligen Frankreich geltenden IPR als auch nach dem zum Zeitpunkt des Todes geltenden europäischen IPR französisches Erbrecht gelten würde (!).
Rz. 141
Umstritten ist insoweit allein, ob der Geltungsbereich nicht einzuschränken ist. So stellt sich die Frage, ob die Rechtswahlfiktion auch dann eingreifen soll, wenn der Erblasser mit der Geltung des Heimatrechts gar nicht gerechnet hatte, weil er davon ausging, es gelte das Wohnsitzrecht. Dutta verlangt daher ein "Rechtsanwendungsbewusstsein". Nach Solomon soll zumindest das Heimatrecht ebenfalls von der Geltung des Heimatrechts ausgegangen sein. Die bislang ergangenen Entscheidungen des EuGH lassen es dagegen genügen, dass die getroffenen Verfügungen nach dem Heimatrecht des Erblassers wirksam sind.
Rz. 142
Zu beachten ist, dass im Fall der Rechtswahl-Fiktion auch die Rückverweisung gem. Art. 34 Abs. 2 EuErbVO ausscheidet. Faktisch vermeidet diese Anknüpfung daher ebenfalls die Nachlassspaltung.