Rz. 183
Gemäß Art. 30 EuErbVO finden "besondere Regelungen" im Recht eines Staates, in dem sich bestimmte unbewegliche Sachen, Unternehmen oder andere besondere Arten von Vermögenswerten befinden, vorrangig vor dem nach den Regeln der EuErbVO bestimmten Erbstatut Anwendung, wenn diese die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf jene Vermögenswerte aus wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Erwägungen beschränken oder berühren und diese Regeln nach dem Recht dieses Staates unabhängig von dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht anzuwenden sind.
Rz. 184
Diese Klausel provoziert beim deutschen Rechtsanwender ein Déjà-vu in Bezug auf Art. 3a Abs. 2 EGBGB, der insbesondere im internationalen Erbrecht nach der Rechtsprechung und weit überwiegenden Literaturansicht zur Begründung eines kollisionsrechtlichen "vorrangigen Einzelstatuts" führte. EG 54 S. 3 und 4 EuErbVO stellt hier aber vorsorglich klar, dass diese Ausnahme von der Anwendung des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts eng auszulegen sei. Daher dürften Kollisionsnormen, die unbewegliche Sachen einem anderen als dem auf bewegliche Sachen anzuwendenden Recht unterwerfen, nicht als besondere Regelungen mit Beschränkungen angesehen werden, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf bestimmte Vermögenswerte betreffen oder Auswirkungen auf sie haben. Als "Besondere Regeln" i.S.v. Art. 30 EuErbVO sollen also ausschließlich Sachnormen anzusehen sein. Diese Feststellung ist freilich widersprüchlich. Die ausländischen Regeln sollen nämlich nur dann vorrangig anzuwenden sein, wenn diese "nach dem Recht dieses Staates unabhängig von dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht anzuwenden sind". Die Frage, ob diese Regeln nach dem ausländischen Recht anzuwenden sind, ergibt sich aber nicht aus dem ausländischen Sachrecht – dieses kann seinen gegenständlichen Anwendungsbereich nicht selbst bestimmen –, sondern aus dem ausländischen Kollisionsrecht. Insoweit ist daher notwendigerweise auf die – ausdrücklichen oder ungeschriebenen – Kollisionsnormen des ausländischen Belegenheitsstaates zurückzugreifen, um festzustellen, ob es dort irgendwelche "besondere Regelungen" gibt, die unabhängig vom Erbstatut anzuwenden sind.
Rz. 185
EG 54 S. 1 EuErbVO verweist erläuternd auf Regelungen, die bestimmte unbewegliche Sachen, bestimmte Unternehmen und andere besondere Arten von Vermögenswerten aufgrund wirtschaftlicher, familiärer oder sozialer Erwägungen besonderen Regelungen mit Beschränkungen unterwerfen, die die Rechtsnachfolge von Todes wegen in Bezug auf diese Vermögenswerte betreffen oder Auswirkungen auf sie haben. Man wird sich keine Sorgen darüber machen müssen, dass schon bald nach dem Verstreichen des Anwendungsstichtags in den einzelnen Mitgliedstaaten die Regeln präsentiert werden, die den dortigen Juristen so sehr am Herzen liegen, dass sie diese als "erbrechtsverordnungsfest" i.S.v. Art. 30 EuErbVO eingeordnet sehen wollen.
Rz. 186
Folgende Regelungen kommen typischerweise in Betracht:
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Die Sonderregelungen zur Hoferbfolge (Erbhofgesetz), wie sie z.B. in einigen deutschen Gebieten, in Österreich, Polen, den nördlichen Landesteilen Italiens und einigen skandinavischen Ländern gelten. |
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Art. 831 frz. Code civil und Art. 832–1 lux. Code civil enthalten Regelungen, die sich auf die Zuteilung des Eigentums an einem landwirtschaftlichen, industriellen oder handwerklichen Betrieb bzw. einer freiberuflichen Praxis an den überlebenden Ehegatten oder einen Miterben beziehen, wenn der Ehegatte bereits in dem Betrieb mitgearbeitet hatte (demande d‘attribution préférentielle). |
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Auch die Regeln, die eine vorrangige Zuordnung des Wohnungseigentums an den überlebenden Ehegatten anordnen, wie z.B. § 14 öst. Wohnungseigentumsgesetz und Art. 764 französischer Code civil, stehen auf der Liste. Gleiches könnte auch für entsprechende Regeln zugunsten eines nicht nichtehelichen Lebensgefährten gelten. Freilich dürfte die Belegenheit der ehelichen bzw. von den nichtehelichen Lebensgefährten gemeinschaftlich genutzten Wohnung regelmäßig mit dem gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers zusammenfallen, so dass sich diese Regeln weniger gegen das gem. Art. 21 EuErbVO bestimmte Erbstatut, sondern allenfalls gegen das gem. Art. 22 EuErbVO gewählte abweichende Heimatrecht des Erblassers durchsetzen müssen – es sei denn, es handelt sich bei der betroffenen Wohnung um eine Zweitwohnung. |
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Vorschriften zur Sondererbfolge in Gesellschaftsanteile werden von dieser Regelung nicht erfasst. Richtiger Ansicht nach sorgen diese Regelungen dafür, dass die Anteile erst gar nicht Teil des nach erbrechtlichen Regeln vererbten Nachlasses werden, sondern außerhalb des Nachlasses übergehen. Es gilt insoweit also der "Vorrang des Gesellschaftsrechts". Die Sondererbfolge stellt im IPR also kein Erbrecht, sondern eine gesellschaftsrechtliche, zu qualifizierende Sondernachfolge dar. Diese Konstellationen fallen daher erst gar nich... |