Rz. 18
Der gewöhnliche Aufenthalt bezeichnet den Daseinsmittelpunkt einer Person. Der EuGH hat im Rahmen der Auslegung von Art. 8 Abs. 2 Brüssel IIa-VO für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines minderjährigen Kindes auf den Ort verwiesen, "der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration" ist. Der entscheidende Unterscheid zum Wohnsitzbegriff liege darin, dass beim gewöhnlichen Aufenthalt die tatsächlichen Umstände (soziale und familiäre Integration) im Vordergrund stehen, während beim Wohnsitzbegriff – abhängig von der nationalen Ausprägung – regelmäßig der Bleibewille (animus manendi) im Vordergrund steht. So führt der EuGH aus, dass der gewöhnliche Aufenthalt "anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln" sei. Maßgeblich – aber wohl nicht abschließend – sind dabei folgende Umstände zu berücksichtigen:
1. |
Körperliche Anwesenheit in einem Mitgliedstaat; |
2. |
andere Faktoren, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt:
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Integration in ein soziales und familiäres Umfeld; |
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Dauer, Regelmäßigkeit und Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat; |
▪ |
Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug in diesen Staat; |
▪ |
Staatsangehörigkeit; |
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geografische und familiäre Herkunft; |
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Sprachkenntnisse; |
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familiäre und soziale Bindungen. |
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Rz. 19
Damit ist negativ aber auch klargestellt, dass formalen Aspekten wie dem in Deutschland vielbeachteten melderechtlichen "Hauptwohnsitz", der steuerlichen Ansässigkeit und dem aufenthaltsrechtlichen Status keine bzw. allenfalls eine indizielle Wirkung zukommen kann.
Rz. 20
Es kommt also zu einem Doppeltatbestand, bei dem sowohl rein objektive Elemente – nämlich die körperliche Anwesenheit im entsprechenden Staat – mit – wenn auch nicht rein willensabhängigen – subjektiven Elementen verkoppelt werden. Es ist nahezu selbstverständlich, dass man sich schneller in einem anderen Land einlebt, wenn man dorthin auf eigenen Antrieb gegangen ist, dort auch die engeren Familienangehörigen leben, man viele Freunde hat, man die dortige Sprache spricht, dort schon früher gelebt hat oder gar von dorther stammt, ggf. auch, wenn man dort ein Unternehmen, eine Landwirtschaft oder vielleicht auch nur ein Eigenheim mit Garten aufgebaut hat. Erst diese subjektiven Elemente geben dem dauernden Aufenthalt die Qualität des gewöhnlichen Aufenthalts. Dabei wird man diese an der Brüssel IIa-VO ausgerichtete Formel wegen ihrer Abstraktheit auch auf die EuErbVO übertragen können. Allenfalls die Gewichtung der einzelnen Faktoren wird sich dadurch ändern, dass es zum einen hier regelmäßig nicht um Minderjährige, sondern um reife Erwachsene geht, und zum anderen die Erbfolge und nicht die Zuständigkeit für Schutzmaßnahmen im Vordergrund steht (vgl. Rdn 15).
Rz. 21
Im Grenzpendler-Fall hatte das KG über den gewöhnlichen Aufenthalt eines Deutschen zu entscheiden, der nach Eintritt in den Ruhestand im Jahre 2010 im polnischen Grenzgebiet zu Deutschland eine Wohnung bezog, die in einer Lagerhalle eingerichtet war. Tagsüber war er im Bereich Berlin-Brandenburg als Baubetreuer unterwegs. In Deutschland lebte seine Familie, dort starb er 2016 in einem Krankenhaus. Das KG verneinte eine soziale Integration in Polen (der Erblasser hatte dort keine Familie, keine Freunde oder persönliche Kontakte, er sprach kein Polnisch) und verwies auf fortbestehende enge und feste Verbindung mit Deutschland.
Letztlich macht die Entscheidung des KG deutlich, dass die fortschreitende Zirkulation in Europa und die Durchlässigkeit der Grenzen dem gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt die früher bestehende Unterscheidungskraft nimmt. Es handelt sich um einen für die Verhältnisse im integrierten Europa nicht mehr zeitgerechten und untauglichen Anknüpfungspunkt.
Rz. 22
Diese Akzentverschiebung ergibt sich aus EG 23 S. 2 und 3 EuErbVO: "Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen."
Rz. 23
Es ergibt sich also für das Erbrecht eine Verschiebung des Schwerpunkts auf die subjektiven Faktoren, während das Erfordernis der körperlichen Anwesenheit elastischer ausgelegt werden kann. Es ist also nicht erforderlich, dass der Erblasser in dem entsprechenden Staat verstorben ist. Es genügt, wenn er sich "in den Jahren vor seinem Tod" dort regelmäßig aufgehalten hat. Dabei kann man die "Regelmäßigkeit" – anders als den "überwiegenden Aufenthalt" – nicht von einer quantita...