Rz. 27

Der gewöhnliche Aufenthalt wird in Deutschland als "faktischer Wohnsitz"[25] charakterisiert, um deutlich zu machen, dass voluntative Elemente – die beim Wohnsitz so bedeutend sind – hier keine Rolle spielen. In der Tat ersetzt der EuGH das voluntative "subjektive Element" des Wohnsitzbegriffs bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts durch eher tatsächlich orientierte Merkmale, wie die familiäre und soziale Integration. Dennoch entkommt der EuGH auf diese Weise nicht vollständig einer Willensfeststellung.

 

Rz. 28

In der vom EuGH am 22.12.2010 entschiedenen Rechtssache Mercredi[26] hatte Frau Mercredi das Kleinkind Chloe – für das sie die alleinige elterliche Sorge besaß – aus London mit dem Flugzeug nach Réunion verbracht. Der in England lebende leibliche Vater beantragte kurz darauf vor den englischen Gerichten, ihm die elterliche Sorge zu übertragen. Der Antrag wäre nur dann zulässig gewesen, wenn die englischen Gerichte aufgrund eines gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in England international zuständig gewesen wären. Der EuGH stellte hierbei – da es sich um ein Kleinkind ohne eigene soziale Integration handelte – darauf ab, ob auf Seiten der Mutter eine Beständigkeit des erst vor kurzem begründeten Aufenthalts in La Réunion gegeben sei. Der EuGH ging hier davon aus, dass trotz der Kürze des Aufenthalts auf La Réunion sich aus der Absicht der Mutter, dort dauerhaft zu bleiben, die Beständigkeit des Aufenthalts dort ergeben könne.[27] Das ist insoweit selbstverständlich, als ein als Urlaub geplanter Aufenthalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann und – bei Erfüllung der Voraussetzungen für eine soziale Integration im Übrigen – die Beständigkeit des Aufenthalts dann allenfalls von subjektiven Umständen abhängen kann. Der willenszentrierten Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts hat der EuGH damit nicht das Wort geredet. Vielmehr ergibt sich die Bedeutung des Willens unvermeidlich daraus, dass bei einem Wechsel des Aufenthalts dessen Beständigkeit zu Beginn nur abhängig davon ermittelt werden kann, ob dieser als Provisorium oder als Dauerlösung geplant ist.

 

Rz. 29

Auch in der Rechtssache A[28] hat der EuGH darauf hingewiesen, dass "die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein" könne. Ein weiteres Indiz könne in der Einreichung eines Antrags auf Zuweisung einer Sozialwohnung liegen.[29]

 

Rz. 30

Bedeutung und Grenzen des Bleibewillens für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts hat das OLG Stuttgart anschaulich dargelegt:[30]

 

Rz. 31

Zitat

"Nach h.A. ist der “gewöhnliche Aufenthalt‘ rein tatsächlich und nicht normativ zu bestimmen. Es kommt daher darauf an, wo der Daseinsmittelpunkt eines Kindes ist, d.h. der Ort des tatsächlichen Mittelpunktes seiner Lebensführung, des Schwerpunktes seiner sozialen Bindungen, insbesondere in familiärer und schulischer bzw. beruflicher Hinsicht. Eine solche soziale Integration setzt voraus, dass der Aufenthalt von einer gewissen Dauer ist, wobei in der Regel ein Zeitraum von sechs Monaten zugrunde gelegt wird. Je nach Umständen kann dieser Zeitraum auch länger oder kürzer sein. Da die Eltern von A. ab September 2001 einverständlich an einen ihnen vertrauten Ort in Frankreich zurückkehrten, der Antragsteller dort wieder als Lehrer arbeitete und sie somit keine größere Eingewöhnungsphase benötigten, kam dies auch der sozialen Integration von A. zugute. Unter diesen Umständen hatte A. seinen gewöhnlichen Aufenthalt jedenfalls in Frankreich, bevor er im April 2002 in Deutschland zurückgehalten wurde. Dass die Parteien mittelfristig beabsichtigten, wieder nach Deutschland zurückzukehren – sobald der Antragsteller dort eine Anstellung gefunden hat –, ändert an diesem tatsächlichen Daseinsschwerpunkt nichts, weil ein sog. animus manendi für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht erforderlich ist."

 

Rz. 32

Für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in Frankreich war daher – neben der Möglichkeit zur sofortigen Re-Integration aufgrund des bisherigen Lebensverlaufs – der einverständliche Wille der Eltern maßgeblich, dort wegen der Arbeitsstelle des Vaters erst einmal länger zu bleiben. Die Absicht, bei besserer Gelegenheit später nach Deutschland zurückzukehren, stand hier der Integration nicht entgegen. Anders wäre dies aber – zumindest im Erbrecht – möglicherweise dann zu bewerten, wenn die Arbeitsstelle in Frankreich von Anfang an befristet gewesen wäre.[31]

 

Rz. 33

Unter Betonung des Willens des Erblassers hat das OLG München den Pflegeheimfall entschieden, in dem es darum ging, ob der Erblasser einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Tschechischen Republik dadurch begründet hatte, dass ihn eines seiner Kinder nach Verlust der Geschäftsfähigkeit in ein Pflegeheim in der Tschechischen Republik verbracht hatte. Da...

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