A. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt
I. Die Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts im internationalen Erbrecht
Rz. 1
Der gewöhnliche Aufenthalt ist einer der Schlüsselbegriffe der EuErbVO. Er ist nicht nur für die Anknüpfung des Erbstatuts (Art. 21 EuErbVO) und des für die Verfügungen von Todes wegen maßgeblichen Errichtungsstatuts (Art. 24, 25 EuErbVO) von besonderer Bedeutung. Die internationale Zuständigkeit für gerichtliche Streitigkeiten (Art. 4 EuErbVO) und die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses (Art. 64 EuErbVO) knüpfen ebenfalls an den gewöhnlichen Aufenthalt an.
Rz. 2
Auch wenn der gewöhnliche Aufenthalt schon lange im nationalen, im europäischen und im Kollisionsrecht der Haager Konventionen als Anknüpfungspunkt verwandt wird, bleibt er in seinen Konturen weiterhin schattenhaft. Bezeichnend mag hier das berühmte Bonmot des britischen Generalanwalts Sir Jean-Pierre Warner aus dem Jahre 1976 sein: "It seems to me that habitual residence is, rather like an elephant, easier to recognize than to define." Daraus ergibt sich zutreffend, dass in der Praxis in den meisten Fällen die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts keine Probleme bereitet. Hier genügen die Schlagworte vom "Daseinsmittelpunkt" bzw. "Lebensmittelpunkt", um zu erkennen, was gemeint ist. In den Randbereichen freilich bedarf es schärferer Konturen, die die Rechtsprechung noch herausarbeiten muss.
Rz. 3
Man hat im Verlauf der Arbeiten an der EuErbVO vorgeschlagen, in die Verordnung eine Definition des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts aufzunehmen. Der Berichterstatter für die EuErbVO im Europäischen Parlament, Kurt Lechner, hat bekundet, er habe sich gegen diese Forderungen gewehrt. Der Begriff sei zu komplex. Ihm habe auch niemand einen Vorschlag machen können. Man hat immerhin der Erläuterung des Begriffs zwei Erwägungsgründe (EG 23 und 24 EuErbVO) gewidmet. Diese enthalten durchaus mehr als unverbindliche Gemeinplätze. Dies wird nachfolgend (siehe Rdn 22) anhand einiger konkreter Auslegungsprobleme gezeigt werden. Im Übrigen stände eine Definition der offenbaren Absicht entgegen, mit dem gewöhnlichen Aufenthalt bewusst einen "offenen Terminus" gewählt zu haben, um die Feinjustierung, also die Entscheidung der Frage, welches Erbrecht in den problematischen Grenzfällen gelten soll, der Rechtsprechung zu überlassen. Durch Verwendung dieses Begriffs hat man also die Frage, welches Recht gelten soll, m.E. nur teilweise geregelt und im Übrigen eine Delegation an die Judikative vorgenommen. Eine zuverlässige Entscheidung hinsichtlich dieser Grenzfälle wird daher erst in einigen Jahren möglich sein. Das ist belastend, denn insoweit gibt es vorerst für die Beteiligten keine Planungssicherheit. Zwar gewährt Art. 22 die Möglichkeit einer Rechtswahl. Die Wahlmöglichkeit betrifft aber ausschließlich das Heimatrecht. Eine Festlegung auf das – von den Vätern der EuErbVO als vorzugswürdig gehaltene – "Umweltrecht" des Erblassers wird also in den Zweifelsfällen gerade ausgeschlossen (zu den Möglichkeiten der Beeinflussung siehe Rdn 39).
Rz. 4
Bei den zahlreichen ungeklärten Problemen mit dem gewöhnlichen Aufenthalt geht es im Wesentlichen um folgende Fragen:
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Ist ein mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt möglich? |
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Ist der gewöhnliche Aufenthalt für sämtliche Rechtsgebiete oder zumindest für sämtliche Felder des IPR einheitlich zu bestimmen? |
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Müssen die Absichten des Erblassers (subjektive Faktoren) berücksichtigt werden oder zählen ausschließlich "objektive" Faktoren? |
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Können Dritte über den gewöhnlichen Aufenthalt eines geschäftsunfähigen Erwachsenen entscheiden? |
II. Einheitlicher oder erbrechtsspezifischer Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts?
Rz. 5
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts taucht im Recht an vielen Stellen auf. So kennt das deutsche Recht eine Definition in § 9 AO und in § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I. Die Haager Abkommen zum Internationalen Privatrecht benutzen seit dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung des Personalstatuts (für Deutschland verbindlich z.B. die Haager Unterhaltsabkommen von 1956 und 1973, das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) von 1996, das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen (ESÜ) von 2000 und das Haager Unterhaltsprotokoll von 2007). Schließlich taucht der gewöhnliche Aufenthalt auch im EG-Recht an vielen Stellen auf. Die Rechtsprechung betrifft insbesondere Fälle aus dem Arbeits- und Sozialrecht und aus dem internationalen Zivilverfahrensrecht, vor allem der Brüssel IIa-VO.
Rz. 6
Zum Vorschlag der Kommission für die EuErbVO war einmal die Ansicht vertreten worden, der Zusammenhang mit dem Haager Testamentsformübereinkommen erzwinge eine Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts nach der jeweiligen nationalen lex fori. Die mit der EuErbVO anges...