Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 138
Gewöhnlicher Aufenthalt und Wohnsitz (i.S.d. des deutschen Rechts gem. § 7 BGB) werden häufig zusammenfallen, der Unterschied liegt darin, dass die Begründung eines Wohnsitzes einen dahingehenden Willen voraussetzt, während der gewöhnliche Aufenthalt im Grundsatz auf das rein tatsächliche Verweilen abstellt.
Rz. 139
Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die VO selbst keine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts gibt. Wenn die Definition den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt, besteht die Gefahr, dass derselbe Sachverhalt in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt wird. Es könnten – entgegen dem Anliegen der ErbVO – innerhalb der EU dann doch unterschiedliche Rechte berufen werden, was zu einer unerwünschten Rechtszersplitterung führt.
Rz. 140
Es bietet sich daher vielmehr an, auf die Rechtsprechung des EuGH abzustellen, der – in anderem Zusammenhang, nämlich zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes – bereits eine Definition vorgenommen hat. Man wird also zur Definition des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der ErbVO auf die Entscheidung des EuGH vom 2.4.2009 zurückgreifen müssen, in der das Gericht den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts (allerdings eines Kindes i.S.v. Art. 8 der Brüssel II a VO) wie folgt definiert:
Zitat
"Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt ist der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen".
Rz. 141
Erwägensgrund 23 S. 2 der ErbVO betont, dass bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod vorgenommen werden sollte. Dabei sind alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat wie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Es sollte sich eine besonders enge und feste Bindung des Erblassers an diesen Staat erkennen lassen (Erwägensgrund 23 S. 3).
Rz. 142
Dass mit diesen Erwägungen dem gewöhnlichen Aufenthalt noch eine weitere Komponente hinzugefügt werden soll, nämlich eine besonders enge und feste Bindung zum Aufenthaltsstaat, muss allerdings bezweifelt werden. Der gewöhnliche Aufenthalt besteht nach der Definition des EuGH am Ort des Daseinsmittelpunkts (Schwerpunkt der familiären sozialen und beruflichen Beziehungen), zu diesem werden deshalb in aller Regel ohnehin besonders enge und feste Beziehungen bestehen. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, bestimmt sich der gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlich anhand objektiver Kriterien; auf einen Bindungswillen kommt es nicht an. Die Erläuterungen in diesem Erwägensgrund dürfen also nicht dahin missverstanden werden, dass der gewöhnliche Aufenthalt eine Integration des Erblassers in das Recht am gewöhnlichen Aufenthaltsrecht voraussetzt, etwa entsprechende Sprachkenntnisse, Teilhabe am kulturellen Leben und dergleichen mehr.
Rz. 143
Auf der Grundlage "Mittelpunkt der Lebensverhältnisse" ergibt die Logik, dass jeder Mensch zur gleichen Zeit nur einen gewöhnlichen Aufenthaltsort haben kann, zumal zwar eine gewisse Beständigkeit oder Regelmäßigkeit des Aufenthalts, aber keine Mindestaufenthaltsdauer gefordert ist.