Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 371
Das kurze Ablaufdatum (von grundsätzlich sechs Monaten) erklärt sich daraus, dass die ErbVO eine Einziehung oder Kraftloserklärung des ENZ gemäß dem Vorbild des deutschen Rechts (§ 2161 BGB) nicht vorsieht, sondern nur die Änderung oder den Widerruf (Art. 71 Abs. 2 ErbVO; § 38 IntErbRVG).
Rz. 372
Das gilt nicht nur bei Schreibfehlern (Art. 71 Abs. 1 ErbVO), sondern sogar insbesondere auch, soweit es um die inhaltliche Unrichtigkeit des ENZ geht. Die bei der Ausstellungsbehörde verbleibende Urschrift wird zwar berichtigt, geändert oder widerrufen, eine Einforderung der bereits ausgestellten und noch im Verkehr befindlichen beglaubigten Abschriften von der ursprünglichen – inhaltlich fehlerhaften – Urschrift ist dagegen nicht vorgesehen, selbst wenn das Ablaufdatum der beglaubigte Abschriften noch nicht erreicht ist.
Rz. 373
Nach Art. 71 Abs. 3 ErbVO unterrichtet die Ausstellungsbehörde zwar unverzüglich alle Personen, denen beglaubigte Abschriften ausgestellt worden waren über eine Berichtigung, eine Änderung oder einen Widerruf des ENZ; diese Unterrichtung bewirkt aber nicht den Verlust des guten Glaubens hinsichtlich der noch zirkulierenden (fehlerhaften) beglaubigten Abschriften. Damit kann derjenige, dem die beglaubigte Abschrift ausgestellt worden war, nach wie vor wirksam über Nachlassgegenstände verfügen, sofern der Dritte weiterhin gutgläubig ist. Das wird regelmäßig der Fall sein, denn eine Information des Dritten durch die Ausstellungsbehörde über den Widerruf ist von der ErbVO nicht vorgesehen (abgesehen davon, dass die Unterrichtung des Dritten naturgemäß schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil die Ausstellungsbehörde die Person des Dritten nicht kennt).
Rz. 374
Berichtigung, Änderung oder Widerruf (der Urschrift des ENZ) erfolgen gem. Art. 71 Abs. 1 und 2 ErbVO entweder auf Verlangen jeder Person, die eine berechtigtes Interesse nachweist oder von Amts wegen, soweit das nach innerstaatlichem Recht möglich ist. Nach deutschem Recht besteht diese Möglichkeit, denn der deutsche Erbschein wird bei Unrichtigkeit von Amts wegen eingezogen (vgl. § 2361 Abs. 1 S. 1 BGB: "… hat ihn das Nachlassgericht einzuziehen"); entsprechend sieht § 38 S. 2 IntErbRVG die Änderung bzw. den Widerruf auch von Amts wegen vor.
Rz. 375
Ein deutsches Nachlassgericht berichtigt, ändert und widerruft daher zwar die Urschrift des ENZ von Amts wegen, hat aber weder nach der ErbVO noch nach dem IntErbRVG die Möglichkeit, die (inhaltlich unrichtigen) noch im Rechtsverkehr befindlichen beglaubigten Abschriften zurückzuverlangen.
Rz. 376
Fraglich ist, ob dagegen die Möglichkeit besteht, dass der wahre Berechtigte die Rückgabe der im Umlauf befindlichen beglaubigten Abschriften verlangen kann. Nach deutschem Recht besteht gem. § 2362 Abs. 1 BGB ein eigener materiell-rechtlicher Herausgabeanspruch des wirklichen Erben gegen den Scheinerben auf Rückgabe des unrichtigen deutschen Erbscheins an das Nachlassgericht. Es wird vertreten, § 2362 BGB auch auf die Herausgabe inhaltlich fehlerhafter beglaubigte Abschriften zu erstrecken, sofern deutsches Recht Erbstatut ist.
Rz. 377
Dieser Vorschlag dient der Risikominderung und ist an sich zu begrüßen; da die ErbVO aber gerade keine entsprechenden Vorschriften kennt, ist zweifelhaft, ob sich diese Ansicht durchsetzen wird.
Dagegen spricht auch, dass ausländische Gerichte auf diese deutsche Vorschrift nicht zurückgreifen werden, selbst wenn deutsches Recht Erbstatut ist. Dann aber erscheint es unbillig, dem wahren Erben den Anspruch in Deutschland zuzugestehen, wenn es um die Herausgabe der unrichtigen Abschriften an das deutsche Nachlassgericht geht, denn damit wäre die Situation in Deutschland gegenüber derjenigen in den anderen Mitgliedstaaten für den wahren Erben privilegiert.