Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
a) Subsidiäre Zuständigkeit nach Art. 10 ErbVO
Rz. 236
Hatte der Erblasser dagegen seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Drittstaat (oder in Dänemark, dem Vereinigten Königreich oder in Irland), besteht nach der Grundsatzregel des Art. 4 ErbVO keine Zuständigkeit eines EU-Mitgliedstaats. Wenn der Erbfall aber trotz des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers außerhalb der EU Berührungspunkte zu Mitgliedstaaten aufweist, besteht ein Bedürfnis für eine europäische Zuständigkeit. Für solche Fälle stellt Art. 10 ErbVO besondere Zuständigkeitsregelungen auf.
Rz. 237
Grundvoraussetzung für die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats ist, dass sich dort Nachlassgegenstände befinden. Ist das nicht der Fall, kommt eine Anwendung von Art. 10 ErbVO nicht in Betracht (Gerichte der Mitgliedstaaten können dann allenfalls über Art. 11 ErbVO zuständig sein).
Rz. 238
Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, sind aber nur zuständig, wenn ein weiterer Berührungspunkt zu diesem Staat besteht. Hierfür schreibt Art. 10 ErbVO eine bestimmte Rangfolge vor, die zwingend ist, wie sich aus Erwägensgrund 30 ergibt.
Rz. 239
Vorrangig kommt es auf die Staatsangehörigkeit des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalls an (Art. 10 Abs. 1 Buchstabe a ErbVO). Hatte er die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaates, ist dessen Zuständigkeit begründet und zwar nicht nur für die dort belegenen Nachlassgegenstände, sondern für den gesamten Nachlass (Art. 10 Abs. 1 letzter Hs. ErbVO).
Hat der Erblasser Vermögen in mehreren EU-Mitgliedstaaten hinterlassen, ist danach die Zuständigkeit der Gerichte in seinem Heimatstaat begründet (Allzuständigkeit für den gesamten Nachlass).
Rz. 240
Nicht geregelt ist jedoch die Frage, welche Gerichte zuständig sind, sofern der Erblasser Vermögen in mehreren Mitgliedstaaten hinterlässt und außerdem auch die Staatsangehörigkeit mehrerer Mitgliedstaaten besaß. Eine Regelung für die Frage der Zuständigkeit bei Doppelstaatern fehlt; eine solche ist nur für die Frage des anwendbaren Rechts vorgesehen: Art. 22 Abs. 1 Unterabschnitt 2 ErbVO bestimmt hierzu, dass das Recht jedes Staates gewählt werden kann, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besitzt. Im Hinblick auf die Zuständigkeit tut sich hier eine Regelungslücke auf, auch die Erwägungsgründe gehen auf diese Frage nicht ein. Es erscheint sachgerecht, die Regelung des Art. 22 ErbVO entsprechend heranzuziehen. Hat der Erblasser also mehrere Staatsangehörigkeiten, von denen eine die des betreffenden Mitgliedstaates ist, in dem sich Vermögen befindet, so ist die Zuständigkeit dieses Staates begründet.
Hatte der Mehrstaater verschiedene EU-Staatsbürgerschaften, muss die Zuständigkeit jedes dieser Mitgliedstaaten begründet sein, sodass es faktisch zu einem Wahlrecht kommt. Der Erbe kann dann entscheiden, welches der alternativ zuständigen Gerichte angerufen wird; das zuständige Gericht ist dann wiederum für den gesamten Nachlass zuständig, also auch für den Nachlass in dem anderen (ebenfalls zuständigen) EU-Mitgliedstaat.
Rz. 241
Nur wenn der Erblasser nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, kommt es auf den früheren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat an (Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b ErbVO); allerdings darf die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts aus diesem Mitgliedstaat in den Drittstaat nicht länger zurückgelegen haben als fünf Jahre. Zu beachten ist hier, dass für den Zeitablauf auf die Anrufung des Gerichts abgestellt wird, nicht auf den Erbfall. Art. 14 ErbVO regelt, wann ein Gericht als angerufen gilt (grundsätzlich wird auf die Anhängigkeit abgestellt).
Rz. 242
Ergibt sich danach keine Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, so ist gem. Art 10 Abs. 2 ErbVO dennoch die Zuständigkeit des Mitgliedstaats begründet, in dem sich Nachlassvermögen befindet, allerdings beschränkt auf den dort befindlichen Nachlass (aus Art. 10 Abs. 2 ErbVO ergibt sich also anders aus Art. 10 Abs. 1 ErbVO keine Allzuständigkeit).
b) Notzuständigkeit nach Art. 11 ErbVO
Rz. 243
Nur wenn sich keine Zuständigkeit eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 4 oder aufgrund von Art. 10 ErbVO ergibt, kann Art. 11 ErbVO in Ausnahmefällen eine Notzuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaates begründen. Voraussetzung dafür ist die Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit, ein Verfahren in einem Drittstaat einzuleiten oder zu führen, zu dem die Sache einen engen Bezug aufweist.
Aus Erwägensgrund 31 ergibt sich, dass die Vorschrift besonderen Fällen von Rechtsverweigerung begegnen will. Als Beispiel für einen Ausnahmefall nennt Erwägensgrund 31 einen Bürgerkrieg und den Fall, dass "vernünftigerweise" nicht erwartet werden kann, ein Verfahren in diesem Staat (dem Drittstaat) zu führen. Dieses Merkmal wird etwa dann nicht erfüllt sein, wenn der Drittstaat über ein geordnetes Rechtswesen verfügt, wie z.B. die Schweiz, die US-Bundesstaaten oder Kanada.
Art. 11 S. 2 ErbVO verlang...