Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
a) Wohn- und Arbeitsort fallen auseinander
Rz. 144
Schwierigkeiten entstehen, wenn der berufliche Daseinsmittelpunkt und der familiäre und/oder soziale Daseinsmittelpunkt auseinander fallen, der Erblasser also in einem Staat wohnt, seiner regelmäßigen Arbeit aber in einem anderen Staat nachgeht, er also von Berufs wegen zwischen zwei verschiedenen Staaten pendelt.
Rz. 145
Diesen Fall betrifft Erwägensgrund 24 S. 2 – der Erblasser hat sich aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen in einen anderen Staat begeben, um zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsland aufrechterhalten. Leider regelt die ErbVO nicht explizit, ob in einem solchen Fall für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts die familiären Beziehungen Vorrang vor den beruflichen Beziehungen (bzw. umgekehrt) haben sollen; auch die Erwägensgründe helfen insoweit nicht weiter. In Erwägungsgrund 24 S. 1 wird dazu nur ausgeführt, dass sich die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes in solchen Fällen als "komplex" erweisen kann. Nach Erwägensgrund 24 S. 3 "könnte" in diesem Fall davon ausgegangen werden, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, indem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand. Ob man damit im Zweifel zu einer vorrangigen Berücksichtigung der familiären/sozialen Beziehungen den beruflichen Beziehungen gegenüber gelangen muss, ist unklar, denn wovon auszugehen ist (im Gegensatz zu: ausgegangen werden "könnte"), bleibt offen. Wenn der EuGH bei der Definition des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes verstärkt auf die familiären Verhältnisse abstellt, ist das nicht unbedingt auf die Definition des gewöhnlichen Aufenthalts in Erbfällen zu übertragen. Denn im Hinblick auf das Kind geht es vor allem um den Schutz des Kindes (etwa: welcher Staat ist zuständig, Schutzmaßnahmen einzuleiten), ein Aspekt der hier gar nicht in Rede steht.
b) Pendler
Rz. 146
Schwierigkeiten entstehen auch, wenn der Erblasser ein "Wanderleben führt"; er pendelt nicht aus beruflichen, sondern aus privaten Gründen zwischen zwei (oder mehr) Staaten. Hierbei ist z.B. an Rentner zu denken, die regelmäßig mehrere Monate im Jahr in ihrem Ferienhaus verbringen, die übrige Zeit aber in ihrem Heimatstaat wohnen. In diesen Fällen wird es schwer fallen, den gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen, insbesondere, wenn die Verweildauer in beiden Staaten jeweils etwa gleich ist und der Erblasser auch an beiden Aufenthaltsorten in das soziale Leben vor Ort integriert ist. Eine Spezialklausel für diese Fälle sieht die Verordnung nicht vor. Erwägensgrund 24 (letzter S.) erlaubt für diese Fälle, die Staatsangehörigkeit oder den Ort, an dem sich Vermögensgegenstände befinden, bei der Gesamtbeurteilung als "besonderen Faktor" zu berücksichtigen.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Überlegung, dass die Anknüpfung zur Anwendung eines Rechts führen muss, denn mehrere Erbrechte können nicht nebeneinander berufen sein, es kann jeweils nur ein Recht auf die Rechtsnachfolge anwendbar sein.
c) Geschäftsunfähige Erblasser
Rz. 147
Nicht geregelt ist auch der Fall, wie der gewöhnliche Aufenthalt bei nicht geschäftsfähigen Erblassern bestimmt werden soll, deren Aufenthalt nicht auf einer eigenen Handlung fußt, sondern von Dritten bestimmt wurde. Zu denken ist dabei z.B. an Demenzkranke, die von ihrer Familie (ggf. aus Kostengründen) in einem Pflegeheim im Ausland untergebracht werden. Ob man auch in diesen Fällen die Staatsangehörigkeit berücksichtigen kann (über Erwägensgrund 24), erscheint zumindest in den Fällen zweifelhaft, in denen der Erblasser vor dem Tod gar nicht mehr in sein Heimatland zurückgekehrt ist.