Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
I. Sachlicher Anwendungsbereich
Rz. 47
Der sachliche Anwendungsbereich ist zwar ausdrücklich in Art. 1 (Überschrift: Anwendungsbereich) geregelt, jedoch muss außerdem Art. 23 ErbVO (Reichweite des anzuwendenden Rechts) berücksichtigt werden, insofern sind die Vorschriften unübersichtlich geordnet.
Nach Art. 1 Abs. 1 ErbVO umfasst der Anwendungsbereich "die Rechtsnachfolge von Todes wegen".
Art. 3 definiert die Begriffe der ErbVO. Unter "Rechtsnachfolge von Todes wegen" versteht die ErbVO gem. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe a jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, sei es im Wege der gewillkürten oder gesetzlichen Erbfolge. Der Anwendungsbereich des Erbstatuts gem. der kollisionsrechtlichen Regelung der ErbVO deckt sich damit weitgehend mit der Reichweite des Erbstatuts des bisherigen deutschen Kollisionsrechts; dem Erbstatut gem. Art. 25 EGBGB bisherige Fassung unterfallen ebenfalls grundsätzlich alle materiell-erbrechtlichen Fragen des Vermögensübergangs anlässlich eines Todesfalles.
II. Reichweite des anzuwendenden Rechts
1. Die Positivliste
Rz. 48
Aus Art. 23 Abs. 1 und Abs. 2 ErbVO (Reichweite des anzuwendenden Rechts) i.V.m. Erwägungsgrund 9 (… alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen…) ergibt sich zunächst eine Positivliste:
a) Klare Regelungsbereiche
Rz. 49
Nach dem nicht abschließenden Katalog des Art. 23 Abs. 2 ErbVO regelt das Erbstatut nach der ErbVO insbesondere
▪ |
den Eintritt des Erbfalls (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe a), |
▪ |
die Erbfähigkeit (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe c), |
▪ |
die Enterbung und Erbunwürdigkeit (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe d), |
▪ |
die Haftung für Nachlassverbindlichkeiten (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe g), |
▪ |
die Teilung des Nachlasses (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe j), |
▪ |
Ausgleichung und Anrechnung (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe i). |
Diese Regelungsbereiche sind für deutsche Rechtsanwender ohne weiteres verständlich und gut umsetzbar.
b) Erklärungsbedürftige Regelungsbereiche
Rz. 50
Der Katalog des Art. 23 Abs. 2 ErbVO zählt ferner Regelungsbereiche des Erbstatuts auf, die erklärungsbedürftig sind, nämlich
▪ |
die Berufung der Berechtigten, die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile und etwaiger ihnen vom Erblasser auferlegten Pflichten sowie die Bestimmung sonstiger Rechte, einschließlich der Nachlassansprüche des überlebenden Ehegatten oder Lebenspartners (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe b), |
▪ |
der Übergang der zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte, Rechte und Pflichten auf die Erben und gegebenenfalls die Vermächtnisnehmer, einschließlich der Bedingungen für die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses und deren Wirkungen (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe e), |
▪ |
die Rechte der Erben, Testamentsvollstrecker und anderer Nachlassverwalter insbesondere im Hinblick auf die Veräußerung von Vermögen und die Befriedigung der Gläubiger, unbeschadet der Befugnisse nach Art. 29 Abs. 2 und 3 (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe f), |
▪ |
der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahe stehen, gegen den Nachlass oder gegen den Erben (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe h) |
Rz. 51
Der Begriff des "Berechtigten" (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe b) wird in Erwägungsgrund 47 erklärt: gemeint sind Erben und Vermächtnisnehmer.
Im Hinblick auf den Übergang des Nachlasses auf die Erben und "gegebenenfalls die Vermächtnisnehmer" (Art. 23 Abs. 2 Buchstabe e) hat die Verordnung berücksichtigt, dass die Figur des Vermächtnisses unterschiedlich ausgestaltet ist (vgl. auch insoweit Erwägungsgrund 47): In verschiedenen Rechtsordnungen erhält der Vermächtnisnehmer nicht nur einen schuldrechtlichen Anspruch wie im deutschen Recht (vgl. § 2174 BGB – Damnationslegat), sondern einen unmittelbaren Anteil am Nachlass, das Vermächtnis wirkt also unmittelbar dinglich (Vindikationslegat).
Rz. 52
Für die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft (ebenfalls Art. 23 Abs. 2 Buchstabe e) ist zusätzlich Art. 28 von Bedeutung, der die Formgültigkeit einer Annahme – oder Ausschlagungserklärung betrifft. Die Erklärung ist formgerecht, wenn sie entweder der Form des von der ErbVO berufenen Erbrechts entspricht oder dem Recht des Staates, in dem der Annehmende/Ausschlagende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Rz. 53
Bei Art. 23 Abs. 2 Buchstabe h der ErbVO – Stichworte: "verfügbarer Teil des Nachlasses, Pflichtteile und andere Beschränkungen" – kommt es nicht darauf an, ob das berufene Recht dem Pflichtteilsberechtigten nur einen schuldrechtlichen Anspruch auf Zahlung gewährt (wie das deutsche Recht, vgl. § 2303), oder ob die Pflichtteilsberechtigung als dinglich wirkendes Noterbrecht ausgestaltet ist, so dass ein bestimmter Anteil an der Erbschaft gar nicht zur Disposition des Erblassers steht.
Rz. 54
Der Hinweis auf Art. 29 ErbVO im Hinblick auf die Rechte der "Testamentsvollstrecker und anderer Nachlassverwalt...