Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 133
Nach Art. 21 Abs. 1 ErbVO unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Hauptanknüpfungspunkt ist daher nicht mehr die Staatsangehörigkeit, sondern in allen Mitgliedstaaten richtet sich in Zukunft die Erbfolge nach dem Recht des letzten Aufenthalts des Erblassers. Das bedeutet für diejenigen Staaten, die bisher an die Staatsangehörigkeit angeknüpft haben – wie Deutschland – eine Kehrtwende.
Rz. 134
Ohne Rechtswahl wird also zukünftig EU-weit an den letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers angeknüpft, unabhängig davon, wie lange der Erblasser an diesem Aufenthaltsort lebte.
Für das von der Verordnung gewählte Aufenthaltsprinzip spricht, dass üblicherweise der Mittelpunkt der Lebensinteressen am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Erblassers lag und sich dort auch häufig ein Großteil des Nachlasses befindet.
Rz. 135
Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers hat aber auch gravierende Nachteile:
Einmal ist der gewöhnliche Aufenthalt nicht so leicht zu bestimmen – z.B. wenn der Erblasser sich abwechselnd an mehreren Orten aufhält, etwa ein deutscher Rentner mit einer Ferienwohnung auf Mallorca – und nachzuweisen wie die Staatsangehörigkeit.
So weit ersichtlich wird EU-weit die Erteilung eines Reisepasses an die Staatsangehörigkeit geknüpft, d.h. nur Staatsangehörigen eines betreffenden Staates wird der Reisepass dieses betreffenden Staates erteilt. Daraus folgt, dass mit der Vorlage des Passes die Staatsangehörigkeit nicht nur einfach und unproblematisch zu ermitteln, sondern vor allem auch einfach nachzuweisen ist, in der Praxis ein unschätzbarer Vorteil.
Rz. 136
Zum anderen ist der gewöhnliche Aufenthalt ein wandelbarer Anknüpfungspunkt, der gewöhnliche Aufenthalt kann sich im Verlaufe des Lebens des Erblassers u.U. mehrfach ändern; wenn dem Erblasser dann nicht bewusst ist, dass der Wechsel des Aufenthaltsorts die Beerbung nach einem anderen Recht nach sich zieht, kann es zu ungeahnten und vor allem ungewünschten Ergebnissen für alle Beteiligten kommen.
Rz. 137
Die Anknüpfung an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts (statt an die Staatsangehörigkeit) hat sich aber inzwischen zum zentralen Anknüpfungspunkt im europäischen Kollisionsrecht entwickelt (vgl. z.B. Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO; Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO), und so kann es nicht verwundern, dass die ErbVO an diese gewachsene Tradition anknüpft.
1. Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
Rz. 138
Gewöhnlicher Aufenthalt und Wohnsitz (i.S.d. des deutschen Rechts gem. § 7 BGB) werden häufig zusammenfallen, der Unterschied liegt darin, dass die Begründung eines Wohnsitzes einen dahingehenden Willen voraussetzt, während der gewöhnliche Aufenthalt im Grundsatz auf das rein tatsächliche Verweilen abstellt.
Rz. 139
Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die VO selbst keine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts gibt. Wenn die Definition den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleibt, besteht die Gefahr, dass derselbe Sachverhalt in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt wird. Es könnten – entgegen dem Anliegen der ErbVO – innerhalb der EU dann doch unterschiedliche Rechte berufen werden, was zu einer unerwünschten Rechtszersplitterung führt.
Rz. 140
Es bietet sich daher vielmehr an, auf die Rechtsprechung des EuGH abzustellen, der – in anderem Zusammenhang, nämlich zum gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes – bereits eine Definition vorgenommen hat. Man wird also zur Definition des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der ErbVO auf die Entscheidung des EuGH vom 2.4.2009 zurückgreifen müssen, in der das Gericht den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts (allerdings eines Kindes i.S.v. Art. 8 der Brüssel II a VO) wie folgt definiert:
Zitat
"Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt ist der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, ...