Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 299
Eine "öffentliche Urkunde" ist nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe i ErbVO ein Schriftstück, das als öffentliche Urkunde in einem Mitgliedstaat förmlich errichtet oder eingetragen worden ist, und dessen Beweiskraft sich auf die Unterschrift und den Inhalt der öffentlichen Urkunde bezieht und durch eine Behörde oder eine andere vom Ursprungsmitgliedstaat hierzu ermächtigte Stelle festgestellt worden ist.
Rz. 300
Der Kommissionsvorschlag sah – anders als die jetzige Regelung in § 59 der ErbVO – die Anerkennung öffentlicher Urkunden entsprechend dem Konzept der Anerkennung von Gerichtsentscheidungen vor. Dieser Vorschlag wurde vielfach kritisiert, weil sich öffentliche Urkunden von Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf die Anerkennung ganz erheblich unterscheiden: Während das Gerichtsurteil eine inhaltlich verbindliche Aussage über die streitige Rechtsfrage trifft und in Rechtskraft erwächst, erwächst der Urkundeninhalt gerade nicht in Rechtskraft, sodass eine Anerkennung schon begrifflich gar nicht möglich ist.
1. Annahme der Urkunde
Rz. 301
Dieser Kritik wurde Rechnung getragen, eine Anerkennung öffentlicher Urkunden ist durch die ErbVO nicht mehr vorgesehen, sondern nur noch ihre "Annahme". Art. 59 ErbVO trägt die amtliche Überschrift "Annahme öffentlicher Urkunden".
Rz. 302
In den Erwägungsgründen wird die Annahme öffentlicher Urkunden ausführlich besprochen (vgl. Erwägensgründe 60 bis 66); Ziel der Regelung ist die freie Zirkulation öffentlicher Urkunden innerhalb der Mitgliedstaaten.
Rz. 303
Nach Art. 59 Abs. 1 ErbVO hat eine in einem Mitgliedstaat errichtete öffentliche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung.
Rz. 304
Allerdings stellt Art. 59 Abs. 1 letzter Hs. diese Annahme unter den Vorbehalt, dass dies der öffentlichen Ordnung (ordre public) des annehmenden Mitgliedstaats nicht offensichtlich widersprechen würde.
Rz. 305
Die grenzüberschreitende Annahme öffentlicher Urkunden betrifft nur die formelle Beweiskraft; damit wird die verfahrensrechtliche Beweiswirkung, die ein Mitgliedstaat seiner öffentlichen Urkunde verleiht, in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, die Beweiswirkung wird also exportiert.
Rz. 306
Teilweise wird daraus gefolgert, dass Art. 59 Abs. 1 ErbVO damit im Ergebnis eine doppelte Begrenzung der formellen Beweiskraftwirkungen bestimmt: Ausländischen öffentlichen Urkunden soll im Annahmestaat keine Beweiskraftwirkungen zugemessen werden, die über die Wirkungen von Urkunden im Annahmestaat hinausgeht; die formelle Beweiswirkung soll also nur so weit reichen, wie sie sowohl vom ausstellenden Staat als auch vom annehmenden Staat verliehen wird.
Rz. 307
Naheliegender erscheint es, die Vorschrift des Art. 59 Abs. 1 ErbVO anders zu verstehen: Für den Fall, dass der die Urkunde annehmende Staat die Beweiswirkung des die Urkunde ausstellenden Staates (des so genannten Ursprungsmitgliedstaats) nicht kennt, soll der Urkunde im Annahmestaat die am ehesten vergleichbare Wirkung zugemessen werden. Das lässt sich auch aus den Erwägensgründen ableiten. Erwägensgrund 61 führt aus, dass öffentliche Urkunden in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung entfalten sollten. Die formelle Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung sollte durch Bezugnahme auf Art und Umfang der formellen Beweiskraft der öffentlichen Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt werden.
Rz. 308
Eine deutsche öffentliche Urkunde begründet damit in den Mitgliedstaaten grundsätzlich vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen (vgl. §§ 415 ff. ZPO); kennt der annehmende Staat diese Wirkung nicht, so muss der Rechtsanwender im Annahmestaat der deutschen Urkunde die am ehesten vergleichbare Wirkung des eigenen Rechts beimessen.
Umgekehrt gilt, dass eine ausländische Urkunde in Deutschland grundsätzlich die Beweiskraft besitzt, die das ausländische Verfahrensrecht vorsieht. Ordnet das fremde Verfahrensrecht aber z.B. der Urkunde eine unwiderlegliche Beweiskraft zu, die eine vergleichbare inländische Urkunde nicht hätte, müsste die ausländische Urkunde ggf. in Deutschland in ihrer Beweiswirkung darauf reduziert werden, dass die Vermutung widerleglich ist (vgl. § 415 Abs. 2 ZPO). Allerdings wäre das Gebot, der Urkunde die "am ehesten vergleichbare Wirkung" beizumessen, dadurch umzusetzen, dass etwa die Anforderungen an die Widerleglichkeit auf das höchstmögliche Maß heraufgesetzt würden.
Rz. 309
Gem. Art. 74 ErbVO bedarf es für die Annahme der Urkunden weder der Legalisation noch einer ähnlichen Förmlichkeit (also auch keiner Apostille).
Auskunft über die Beweiskraft im Ursprungsmitgliedstaats erhält der Rechtsanwender im annehmenden Staat durch ein Formblatt, welches au...