Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 403
Nach Art. 75 Abs. 1 ErbVO bleibt die Anwendung internationaler Übereinkommen unberührt, denen einer oder mehrere Mitgliedstaaten zum Zeitpunkt der Annahme dieser Verordnung angehören. Nach Art. 75 Abs. 2 ErbVO genießt die ErbVO aber Vorrang vor Übereinkommen, die lediglich zwischen Mitgliedstaaten geschlossen worden sind. Mit "Annahme dieser Verordnung" ist deren Anwendbarkeit gemeint, also der Stichtag, den Art. 83 Abs. 1 ErbVO nennt (17.8.2015).
Rz. 404
Über Art. 75 Abs. 1 ErbVO bleibt es für Deutschland beim Vorrang der bilateralen Staatsverträge mit
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der Türkei |
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dem Iran |
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der Sowjetunion. |
Die Weiteranwendung deutsch-sowjetischer Verträge ist im Verhältnis zu einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausdrücklich bestimmt worden.
I. Das deutsch-türkische Nachlassabkommen
Rz. 405
Dieses Abkommen enthält sowohl Regelungen zur Zuständigkeit als auch zum anwendbaren Recht. Gem. § 15 S. 1 des Nachlassabkommens besteht die Internationale Zuständigkeit in Erbstreitigkeiten bei den Gerichten des Heimatstaates soweit es sich um den beweglichen Nachlass handelt, soweit es sich um den unbeweglichen Nachlass handelt bei den Gerichten des Lageorts.
Rz. 406
Die Regelungen der ErbVO im Hinblick auf die Internationale Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthaltsort sind daher nicht anwendbar, sie werden von § 15 des Nachlassabkommens verdrängt, der jedoch nur die streitige Gerichtsbarkeit betrifft.
Für türkische Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland bedeutet dies, dass bei streitigen Verfahren ausschließlich die türkischen Gerichte zuständig sind, wenn der Erblasser die türkische Staatsangehörigkeit hatte (so weit nicht unbeweglicher Nachlass betroffen ist).
Rz. 407
Nach bisheriger Rechtslage ging es darum, dass das Abkommen die Zuständigkeitsregelungen der ZPO (nämlich §§ 12 und § 27 ZPO, bei denen die Internationale Zuständigkeit mitgeregelt ist) verdrängte. Klagen auf Herausgabe von beweglichen Nachlassgegenständen oder die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen oder etwa auch Ansprüche des Vermächtnisnehmers auf Erfüllung konnte also nicht bei den deutschen Gerichten eingeklagt werden, sie können ausschließlich von den türkischen Gerichten entschieden werden, selbst wenn alle Beteiligten ihren gewöhnlichen Aufenthalt (bzw. ihren Wohnsitz) ausschließlich in Deutschland haben. Diese Rechtslage war insbesondere angesichts der Zahl der in Deutschland lebenden Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit – etwa 2 Millionen Menschen – ganz offensichtlich lebensfremd und nicht mehr zeitgemäß; sie wurde auch allgemein kritisiert.
Rz. 408
Sofern der deutsch-türkische Konsularvertrag nicht gekündigt wird, wird diese unbefriedigende Rechtslage auch nach Geltung der ErbVO perpetuiert; der Prozess ist weiterhin ausschließlich in der Türkei zu führen, soweit es um bewegliches Vermögen geht.
Rz. 409
Geht es um eine erbrechtliche Streitigkeit im Hinblick auf den unbeweglichen Nachlass eines türkischen Erblassers in Deutschland, sind die deutschen Gerichte gem. § 15 des Abkommens zuständig, wobei es dann – auch nach Anwendbarkeit der ErbVO – entgegen Art. 4 ErbVO nicht darauf ankommt, ob der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. Gegebenenfalls sind also nach wie vor zwei verschiedene Streitverfahren (in Deutschland und in der Türkei) zu führen.
Rz. 410
Auch im Hinblick auf das anwendbare Recht gehen die Regelungen des Nachlassabkommens denjenigen der ErbVO vor. § 14 des Abkommens trennt für das anwendbare Recht zwischen beweglichem und unbeweglichem Nachlass, der bewegliche Nachlass vererbt sich nach dem Heimatrecht des Erblassers, der unbewegliche Nachlass nach dem Lageort. Hinterlässt ein deutscher Staatsangehöriger Immobilien in der Türkei, richtet sich die Erbfolge insoweit nach türkischem Erbrecht (ansonsten galt bislang Art. 25 Abs. 1 EGBGB, die Erbfolge in das restliche Vermögen richtet sich nach deutschem Recht). Hinterlässt ein türkischer Staatsangehöriger Immobilien...