Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
Rz. 382
Gem. Art. 69 Abs. 1 ErbVO entfaltet das ENZ seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. Die Wirkungen orientieren sich am Vorbild der Wirkungen des deutschen Erbscheins.
Art. 69 Abs. 2 ErbVO regelt (ähnlich wie § 2265 BGB im deutschen Recht) zunächst eine Vermutungswirkung: Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, dass der im Zeugnis ausgewiesene Sachverhalt zutreffend wiedergegeben ist. Ebenfalls angelehnt an § 2365 BGB wird vermutet, dass die aufgeführten Erben, die dinglichen Vermächtnisnehmer und die Testamentsvollstrecker und/oder Nachlassverwalter die im ENZ angegebenen Rechtsstellungen haben, und dass sie nicht durch andere als die im ENZ angegebenen Umstände beschränkt sind.
Rz. 383
Art. 69 Abs. 3 und 4 ErbVO regeln den Gutglaubensschutz angelehnt an die Vorschriften des deutschen Rechts gemäß § 2267 BGB (Leistung an den Berechtigten, Art. 69 Abs. 3 ErbVO) und § 2366 BGB (Verfügungen des Berechtigten, Art. 69 Abs. 4 ErbVO), allerdings entfaltet das ENZ nur guten Glauben, nicht öffentlichen Glauben (insoweit vergleichbar also nur mit § 932 BGB, nicht dagegen mit §§ 2366, 2367 BGB).
Rz. 384
Der öffentliche Glaube des deutschen Erbscheins wird nur zerstört, wenn der Erwerber die Unrichtigkeit des Erbscheins kennt oder weiß, dass das Nachlassgericht die Rückgabe des Erbscheins wegen Unrichtigkeit verlangt hat. Es schadet also nur positive Kenntnis (nicht dagegen grobe – auch gröbste – Fahrlässigkeit).
Rz. 385
Im Unterschied hierzu wird der gute Glaube im Sinne des ENZ nicht nur bei positiver Kenntnis, sondern auch bei grober Fahrlässigkeit zerstört. Gutgläubiger Erwerb (bzw. Befreiung von der Leistungspflicht) kommt also aufgrund des ENZ nur in Betracht, wenn der Erwerber nicht weiß, dass das ENZ inhaltlich unrichtig ist, und wenn dieses Nichtwissen nicht auf grober Fahrlässigkeit beruhte.
"Grobe Fahrlässigkeit" wird von der ErbVO nicht definiert, es bleibt abzuwarten, ob sich auch insoweit ein europäischer Standard herausbildet, oder ob es hier zu Unterschieden bei der Auslegung durch die jeweils zuständigen Gerichte der Mitgliedstaaten kommt.
Gem. Art. 69 Abs. 4 ErbVO erwirbt ein gutgläubiger Dritter von einem im ENZ als verfügungsberechtigt Ausgewiesenen wie vom Berechtigten.
Rz. 386
Problematisch ist hier der Fall, dass ein Dritter von einem Vermächtnisnehmer einen Gegenstand erwerben will, der diesem ausweislich des Zeugnisses auch (dinglich) nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht zusteht (vgl. dazu Art. 68 Buchstabe m ErbVO). Kennt das Recht, in dessen Staat das ENZ verwendet wird, keine dinglichen Vermächtnisse (wie das deutsche Recht), so ist der Vermächtnisnehmer entgegen der Aussage des ENZ gerade nicht dinglich berechtigt im Hinblick auf Vermögensgegenstände in diesem Staat, sondern erwirbt die Gegenstände erst nach einer vorausgehenden sachenrechtlichen Übertragung durch den Erben durch Rechtsgeschäft unter Lebenden (vgl. hierzu oben Rn 113).
Der gutgläubige Dritte, der sich auf die Angabe im ENZ verlässt, ist ungeschützt und erwirbt den Gegenstand nicht kraft gutgläubigen Erwerbs des ENZ. Dritte können sich daher insofern nicht so auf das ENZ verlassen, wie das beim deutschen Erbschein der Fall wäre.
Rz. 387
Fraglich ist in diesem Zusammenhang allerdings, ob die Bestimmungen der ErbVO über den guten Glauben des ENZ neben die sonstigen Tatbestände der Überwindung der Nichtberechtigung des Veräußerers nach deutschem Recht treten können, nämlich den öffentlichen Glauben des Grundbuchs (§ 892 BGB) und den gutgläubigen Erwerb beweglicher Gegenstände (§§ 932 ff. BGB).
Im deutschen Recht kann sowohl der öffentliche Glaube des Grundbuchs als auch der gutgläubige Erwerb bei beweglichen Gegenständen neben den öffentlichen Glauben des Erbscheins treten.
Rz. 388
Weist das Grundbuch – zu Unrecht – den Erblasser als Eigentümer eines Grundstücks aus, so hätte dieser gem. § 892 BGB wirksam über das Grundstück verfügen können. Wird nach dem Tod des Erblassers seinem Sohn ein – unrichtiger – Erbschein erteilt ("Doppelfehler"), so kann auch der Sohn als Erbscheinserbe wirksam über das Grundstück verfügen, denn insoweit überwindet § 2366 BGB den Mangel des Erbrechts und § 892 BGB die mangelnde Eigentümerposition des Erblassers bzw. die nicht bestehende Nachlasszugehörigkeit.
Rz. 389
Der gleiche Doppelfehler – mangelndes Eigentum des Erblassers und damit keine Zugehörigkeit der Sache zum Nachlass/mangelndes Erbrecht des Erbscheinserben – wird bei einer Veräußerung eines beweglichen Gegenstandes über das Zusammenwirken der §§ 932 ff. BGB und § 2366 BGB zugunsten des gutgläubigen Erwerbers überwunden.
Rz. 390
Es ist kein Grund ersichtlich, warum § 932 BGB bzw. § 892 BGB nicht auch mit dem gutgläubigen Erwerb gekoppelt werden könnte, den die ErbVO dem ENZ verleiht, zukünftig wird es also auch zu einem Zusammenspiel der jeweiligen inländischen Gutglaubenstatbestände mit denen der ErbVO kommen.
Rz. 391
Im Hinblick auf die Rechte des...