aa) Grundsatz
Rz. 67
Der in § 1361b Abs. 1 S. 1 BGB ausdrücklich benannte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit "soweit dies notwendig ist" beschränkt i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG den Überlassungsanspruch auf den für das Erreichen des Regelungszweck geringsten erforderlichen Eingriff in die Rechte des überlassungsverpflichteten Ehegatten. Das bedeutet, dass in einer Gesamtabwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Wertungen des Art. 6 Abs. 1 GG zu prüfen ist, ob die unbillige Härte durch eine Aufteilung der Wohnung in unterschiedliche Wohnbereiche beseitigt werden kann. Es ist deshalb weder zutreffend, davon zu sprechen, die Überlassung der gesamten Wohnung an den überlassungsberechtigten Ehegatten komme nur als "ultima ratio" in Betracht noch ist die Überlassung der gesamten Wohnung – außerhalb der Fälle des § 1361b Abs. 2 S. 1 BGB – der Regelfall.
Allerdings ist es zutreffend, dass regelmäßig bereits die gemeinsame Benutzung der nur einmal zur Verfügung stehenden Räume, wie Bad, Toilette, Küche, regelmäßig die bestehenden Konflikte und also die unbillige Härte nicht beseitigen, sondern neue Konflikte heraufbeschwören werden. Die Belange der Kinder sind auch und gerade in einem solchen Falle besonders zu berücksichtigen. Je großzügiger die Wohnverhältnisse sind, um so eher kommt eine Aufteilung nach Wohnbereichen in Betracht. Eine tatsächliche Vermutung besteht weder in die eine noch in die andere Richtung. Sind die Ehegatten z.B. im Interesse der Kinder bereit, sich zu arrangieren, und ist zwischen ihnen ein Mindestmaß an gegenseitiger Rücksichtnahme vorhanden, so kommt auch eine Teilung der Wohnung in Betracht, wenn es sich um normale Wohnverhältnisse handelt.
bb) Die spezielle Regelung des § 1361b Abs. 2 BGB
Rz. 68
§ 1361b Abs. 2 BGB enthält eine besondere Regelung für Gewalttaten.
Abs. 2 S. 1 enthält die eigenartige Kombination einer Tatsachenvermutung (nämlich, dass bei einer der genannten Gewalttaten eine unbillige Härte im Sinne von Abs. 1 S. 1 der Vorschrift vorliegt) und der Vermutung einer rein materiellen Rechtsfolge (nämlich derjenigen, dass bei Gewalttaten in der Regel die gesamte Wohnung dem anderen Ehegatten zur alleinigen Benutzung zu überlassen ist). Die Kombination ist deshalb problematisch, weil widerlegbare gesetzliche Tatsachenvermutungen zwar keines Beweises bedürfen, aber der Beweis des Gegenteils zulässig ist (entsprechend § 292 ZPO i.V.m. § 30 Abs. 1 FamFG). Demgegenüber sind üblicherweise Normen, die eine rein materielle Rechtsfolge vermuten (so insbesondere §§ 1361b Abs. 4, 1566 Abs. 1, Abs. 2 BGB), als unwiderlegbare Vermutungen ausgestaltet. Solche Vermutungen haben keine Beweis- oder Beweislastwirkung. Da § 1361b Abs. 2 S. 1 BGB nun nicht als unwiderlegliche Vermutung ausgestaltet ist, enthält die Vorschrift lediglich eine Regelanordnung: Nach den Umständen des Einzelfalls kann auch eine andere Entscheidung getroffen werden; der Ehegatte, der gewalttätig geworden ist oder mit Gewalt gedroht hat, trägt die Darlegungs- und Beweislast für solche Umstände.
Rz. 69
§ 1361b Abs. 2 S. 2 BGB enthält eine Tatsachenvermutung für eine bestehende Wiederholungsgefahr. Dem Ehegatten, der Gewalt verübt oder damit gedroht hat, obliegt es, das Nichtbestehen der Wiederholungsgefahr darzutun und zu beweisen. Der Täter muss also darlegen und beweisen, dass keine weiteren Taten zu befürchten sind. Die Anforderungen an die Widerlegung der tatsächlichen Vermutung sind grundsätzlich hoch. Selbst das Angebot, eine strafbewährte Unterlassungserklärung abzugeben, beseitigt die Wiederholungsgefahr nicht. Gelingt es dem Täter-Ehegatten zu beweisen, dass keine weiteren Gewalttaten zu befürchten sind, also, dass keine Wiederholungsgefahr besteht, besteht der Anspruch des verletzten Ehegatten auf Überlassung der Ehewohnung gleichwohl, wenn die Schwere der Tat ein weiteres Zusammenleben mit dem Täter unzumutbar macht. Die Gesetzesbegründung nennt als Beispiele eine schwere Körperverletzung, eine versuchte Tötung und Vergewaltigung. Deshalb scheidet – im Umkehrschluss – Unzumutbarkeit in der Regel aus, wenn das Nichtbestehen der Wiederholungsgefahr bewiesen ist, es kommt mithin eine Aufteilung der Wohnung in getrennte Wohnbereiche in Betracht. Diesbezüglich ist wieder eine Gesamtabwägung sämtlicher Umstände vorzunehmen.