Rz. 36
Sozialhilfeleistungen erhält nur, wer sich nicht kraft seines Einkommens oder Vermögens selbst helfen kann, vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII (Nachrang der Sozialhilfe). Insofern stellt sich die Frage, ob ein Sozialleistungsempfänger einen Teil seines Bedarfs mit Hilfe seines etwaigen Pflichtteilsanspruchs nach einem verstorbenen Elternteil decken kann. Wird die Geltendmachung eines solchen Anspruchs unterlassen, kann auch der leistende Sozialhilfeträger durch schriftliche Anzeige an den Schuldner bewirken, dass dieser Anspruch bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn übergeht, § 93 Abs. 1 SGB XII. Fraglich ist, ob auf den Pflichtteilsanspruchs wirksam verzichtet werden kann. Im vom BGH mit Urteil vom 19.1.2011 entschiedenen Fall legte die Gestaltung des Testaments wie auch des Pflichtteilsverzichtsvertrags insofern nahe, dass man bewusst versucht hatte, etwaige Ansprüche von Sozialhilfeträgern in Grenzen zu halten bzw. auszuschließen. Die Problematik des sog. Behindertentestaments betrifft insoweit die Frage, wie man sein behindertes Kind optimal durch letztwillige Verfügungen versorgen kann, ohne die laufende staatliche Unterstützung anzutasten, und gleichzeitig den Zugriff von Versorgungsleistungsträgern auf das ererbte Vermögen so gering wie möglich halten kann. Dabei ist umstritten, was noch als angemessen und was bereits als sittenwidrig (§ 138 Abs. 1 BGB) anzusehen ist.
Rz. 37
In dem vom BGH entschiedenen Fall erwies sich die von den Beteiligten gewählte Gestaltung mit der behinderten Tochter als nicht befreiter Vorerbin mit Dauertestamentsvollstreckung und Pflichtteilsverzicht gegenüber dem erstversterbenden Elternteil als typische Variante des Behindertentestaments – wie sie in der Kautelarpraxis weit verbreitet ist. Die Vor- und Nacherbschaft führt zu den Verfügungsbeschränkungen des Vorerben gem. §§ 2112 ff. BGB. Dabei ist § 2115 BGB bedeutsam, wonach der Nachlassteil, der auch für den Nacherben bestimmt ist, vor einer Verwertung durch die Vorerbengläubiger im Wege der Zwangsvollstreckung in den Nachlass geschützt wird. Ferner bewirkt die Regelung der §§ 2211, 2214 BGB, dass Gläubiger des Erben im Falle der Anordnung der Testamentsvollstreckung keinen Zugriff auf das ererbte Vermögen des Erben haben. Der Pflichtteilsverzicht wiederum hat zur Folge, dass auch im Falle des Versterbens eines Elternteils keine vom Sozialhilfeträger im Wege des § 93 Abs. 1 SGB XII überleitungsfähigen Ansprüche entstehen. Letztlich geht der Sozialhilfeträger also leer aus, obwohl er weiterhin vom behinderten Erben in Anspruch genommen wird.
Rz. 38
Der BGH stellte im zitierten Urteil zunächst klar, dass Behindertentestamente mit der zuvor genannten Rechtskonstruktion (nicht befreite Vorerbschaft, Dauertestamentsvollstreckung) grundsätzlich nicht sittenwidrig seien, sondern vielmehr Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus. In Bezug auf die Wirksamkeit eines Pflichtteilsverzichts durch den Behinderten sind die Meinungen im Schrifttum allerdings geteilt. Der BGH kommt zu dem Ergebnis, dass der Pflichtteilsverzicht als wirksam zu erachten ist.
Für die Wirksamkeit des Pflichtteilsverzichts spricht nach BGH zunächst der Grundsatz der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. der Testierfreiheit aus der Erbrechtsgarantie von Art. 14 GG. Danach sind Rechtsgeschäfte, die das BGB vorsieht – und somit auch der Pflichtteilsverzicht –, wirksam, solange sie nicht gegen entgegenstehende Gesetze verstoßen oder der Sittenordnung widersprechen. Beides sei aber die Ausnahme und bedürfe daher ausdrücklicher Feststellung und Rechtfertigung. Abzulehnen sei insoweit die Annahme eines unzulässigen Vertrags zu Lasten Dritter, weil dem Sozialhilfeträger durch den Verzicht keinerlei vertragliche Pflichten auferlegt würden. Der Nachteil der öffentlichen Hand entstehe vielmehr nur mittelbar als Reflex durch Aufrechterhaltung der Bedürftigkeit des Sozialleistungsempfängers.
Rz. 39
Weiterhin könne auch der Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe keine Sittenwidrigkeit begründen. Insoweit stellt der BGH klar, dass das Subsidiaritätsprinzip ohnehin nicht absolut gelte, sondern in den Sozialgesetzen mehrfach durchbrochen werde und zudem mit dem gegenläufigen Prinzip des Familienlastenausgleichs konkurriere. Auch die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Unterhaltsverzichtserklärungen in Eheverträgen, die dazu führen, dass ein Ehegatte sozialhilfebedürftig wird, lässt sich – so der BGH – nicht auf den Fall des Pflichtteilsverzichts übertragen.
Rz. 40
Der BGH vergleicht den Pflichtteilsverzicht vielmehr mit der Ausschlagung einer Erbschaft durch den Behinderten. Insoweit wird aber in Bezug darauf, dass einmal der Erblasser selbst handle und das andere Mal der Behinderte, kein entscheidender Wertungsunterschied gesehen. Auch die Entscheidung des Behinderten, ob er die Erbschaft bzw. den Pflichtteil erhalten wolle, sei durch die Privatautonomie gedeckt.
Zitat
"Grundsätzlich ist jeder frei in ...