I. Der Pflichtteilsverzicht als Alternative zum "klassischen" Behindertentestament
Rz. 45
Der Zugriff auf die Erbschaft eines behinderten Kindes durch den Sozialleistungsträger wird beim "klassischen" Behindertentestament im Wesentlichen durch zwei Rechtsinstitute verhindert:
(1) |
Die Vor- und Nacherbfolge und |
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Die Verwaltungs-(Dauer-)Testamentsvollstreckung. |
Die Kombination von Vor- und Nacherbfolge (§§ 2100 ff. BGB) mit der Verwaltungstestamentsvollstreckung (§ 2209 BGB) bietet für das behinderte Kind optimalen Vollstreckungsschutz.
Rz. 46
Vor allem die Einsetzung eines behinderten Kindes zum Vorerben kann in der Praxis Probleme bei der Verwaltung und Auseinandersetzung eines Nachlasses bereiten, weil der Vorerbe Verfügungsbeschränkungen unterliegt, so kann er bspw. als nicht befreiter Vorerbe – wozu das behinderte Kind bei den klassischen Regelungen eingesetzt wird – gem. § 2113 Abs. 1 BGB nicht über Grundstücke verfügen, es sei denn, der Nacherbe würde zustimmen. Und auch eine Nachlassauseinandersetzung ist eine Verfügung über Nachlassgegenstände, die bei Beteiligung eines nicht befreiten Vorerben erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Rz. 47
Um auch für die anderen Erben eine sachgerechte und wirtschaftlich angemessene Verwaltung samt Auseinandersetzung des Nachlasses zu ermöglichen, hat die Kautelarpraxis andere Gestaltungsvarianten beim Behindertentestament entwickelt.
Die Alternative Pflichtteilsverzicht:
Behinderung ist nicht gleichzusetzen mit Geschäftsunfähigkeit, auch die Anordnung einer Betreuung hat nicht Geschäftsunfähigkeit des Betreuten zur Folge. Deshalb kommt beim geschäftsfähigen Behinderten ein Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB) zur Vermeidung der Ausschlagungsmöglichkeit nach § 2306 BGB in Betracht. Die sich anschließende Pflichtteilsgeltendmachung führt zu einem Liquiditätsabzug, der gerade bei sehr hohen Nachlasswerten nicht erwünscht sein kann. Ein solcher Verzicht ist nach BGH selbst seitens eines Sozialleistungsempfängers nicht sittenwidrig.
Rz. 48
Begründet hat der BGH seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass für eine Einschränkung des dem Pflichtteilsberechtigten aus § 2346 Abs. 2 BGB zustehenden Rechts auf Verzicht auf einen möglichen Pflichtteil bedürfe es guter Gründe, die im Regelfall nicht vorlägen. Auch die Ausschlagung einer angefallenen und nicht überschuldeten Erbschaft durch einen Sozialleistungsempfänger sei nicht sittenwidrig, da es der privatautonomen Entscheidung jedes Einzelnen unterliege, ob er Erbe werden wolle oder nicht ("negative Erbfreiheit", die unter die Erbrechtsgarantie des Art. 14 GG falle).
Rz. 49
Da bei großen Vermögen wegen der Leistungsfähigkeit der Eltern ohnehin keine Sozialleistungen gewährt werden, können mit dem Pflichtteilsverzicht schon zu Lebzeiten des Erblassers Gegenleistungen vereinbart werden, die die Lebensqualität des Kindes verbessern und die über den Tod des Erblassers hinaus reichen. Beispielsweise kann eine für das Kind lebenslang zu leistende Leibrente vereinbart werden, die den Lebensstandard sichert. Damit werden die Leistungsverpflichtungen planbar. Außerdem kann die Rente durch eine Reallast grundbuchlich abgesichert werden, worauf bei einem Pflichtteil kein Anspruch besteht.
Rz. 50
Ist für das behinderte Kind Betreuung oder Vormundschaft angeordnet, so wird eine familien- bzw. betreuungsgerichtliche Genehmigung des Pflichtteilsverzichts (§§ 1822 Nr. 2, 1908i BGB) nur zu erreichen sein, wenn eine adäquate Gegenleistung – z.B. in Form eines Rentenversprechens – vereinbart wird.
II. Der isolierte Pflichtteilsverzicht
Rz. 51
Der reine Pflichtteilsverzicht ist vor allem in Patchwork-Situationen ein in der Praxis nicht selten eingesetztes Gestaltungsinstrument, um einem Erblasser eine möglichst umfassende Testierfreiheit zuzugestehen und Kinder aus früheren Beziehungen erbrechtlich abzusichern. In solchen Fällen wird der Verzicht überwiegend ohne Gegenleistung erklärt. In der Zustimmung zu einer Schenkung kann ein teilweiser Pflichtteilsverzicht liegen.