1. Grundsätze
Rz. 28
Beim Pflichtteilsverzicht, der unmittelbar keine Auswirkungen auf die Erbfolge hat, stellt sich die Frage, inwieweit dieser zufolge einer Störung der Geschäftsgrundlage angepasst und/oder eine "Ausübungskontrolle" durchgeführt werden kann. Der entscheidende Unterschied zu den Kontrollen bei Eheverträgen besteht vor allem im Wesen des Pflichtteilsverzichts als typisches "Risikogeschäft". Der Begriff "Inhaltskontrolle" stammt aus den früheren §§ 8, 9 AGBG, welchen nunmehr § 307 BGB entspricht. § 307 BGB verbietet eine gegen Treu und Glauben verstoßende unangemessene Benachteiligung eines Vertragspartners. Der dort enthaltene grundlegende Wertmaßstab für die richterliche Inhaltskontrolle von allgemeinen Geschäftsbedingungen ist gemäß § 310 Abs. 4 BGB de lege lata nicht für erb- und familienrechtliche Verträge anwendbar. Diesen für das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen geltenden Verbotstatbestand auf das Familienrecht, aber auch das Erbrecht zu transferieren, ist problematisch, weil zum einen prinzipiell eine Ungleichgewichtslage und damit die gestörte Vertragsparität fehlt, zum anderen das Instrumentarium der AGB-Inhaltskontrolle auf vorformulierte Regelungen zugeschnitten ist, also nicht auf typische Individualverträge passt. Die von § 138 Abs. 1 BGB ausgesprochene Nichtigkeitsandrohung trifft im Grundsatz sämtliche Rechtsgeschäfte des Privatrechts.
Rz. 29
Für zwei- und mehrseitige Rechtsgeschäfte ist zwischen
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der schon aus dem Geschäftsinhalt folgenden Sittenwidrigkeit (Inhaltssittenwidrigkeit) und |
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der Umstandssittenwidrigkeit zu unterscheiden, bei der sich erst aus einer Zusammenfassung von Geschäftsinhalt, Beweggrund und Zweck sowie den zur Zeit des Geschäftsabschlusses bestehenden Umständen aufgrund einer Gesamtwürdigung die Sittenwidrigkeit ergibt. Die Sittenwidrigkeit kann sich außer aus dem Inhalt eines Rechtsgeschäfts aus dem Verhalten gegenüber dem anderen Geschäftspartner und aus einer Missachtung schutzwürdiger Belange von Dritten oder der Allgemeinheit ergeben. |
Rz. 30
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und inwieweit demnach auch Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge und/oder das zugrunde liegende Kausalgeschäft einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Eine uneingeschränkte Übertragung der für den Bereich des Ehevertragsrechts entwickelten Wirksamkeits- und Ausübungskontrolle nach Maßgabe der sogenannten Kernbereichslehre auf Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge ist nicht möglich, da die Rechtsinstitute unterschiedliche Schutzzwecke und einen andersartigen Rechtscharakter aufweisen. Insbesondere ist die gewisse Versorgungs- und Alimentationsfunktion, die dem Pflichtteilsrecht zukommt, nicht mit der des Unterhaltsrechts vergleichbar, da das Pflichtteilsrecht nicht auf die Bedürftigkeit des Berechtigten abstellt (BVerfG: "Bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung am Vermögen des Erblassers"). Zudem besitzen Erb- und Pflichtteilsverzichte von der gesetzgeberischen Konzeption her einen aleatorischen Charakter, indem jeder Beteiligte bewusst Unsicherheiten hinsichtlich der persönlichen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Person des Erblassers und des Verzichtenden auf sich nimmt, so dass sie wegen der damit verbundenen Risikozuweisung grundsätzlich auch dann Bestand haben sollen, wenn später eine signifikante Änderung der Vermögenslage eintritt. Wegen des Wesens als abstraktes Verfügungsgeschäft gilt für die Wirksamkeitskontrolle nach § 138 BGB, dass der vom Gesetz in § 2346 BGB zugelassene Verzicht als solcher wertneutral ist. Eine Unwirksamkeit kann sich gleichwohl aus dem Gesamtcharakter sowie aus Umständen, die eine dem Verzicht zugrunde liegende schuldrechtliche Vereinbarung anhaften, ergeben.
Rz. 31
Sittenwidrigkeit i.S.v. § 138 Abs. 1 BGB ist nach allgemeinen Grundsätzen dann anzunehmen, wenn das Verhalten einer Vertragspartei dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht. Hierbei ist – wobei in den Details Uneinigkeit besteht – eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Momente heranzuziehen. Die Prüfung am Maßstab der Sittenwidrigkeit ist damit, insbesondere im Fall der Inhaltskontrolle, ein Instrument, um groben Verstößen entgegenzutreten, dessen Anwendung auf evidente Ausnahmefälle begrenzt bleiben muss. Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung ist dabei der, zu dem das Rechtsgeschäft vorgenommen wird. Spätere Umstände können daher grundsätzlich nicht berücksichtigt werden; sie können allerdings einen Rückschluss auf Umstände erlauben, die für die objektiven oder subjektiven Aspekte von Bedeutung sind, oder im Rahmen des § 141 BGB Bedeutung erlangen. Diese Maßstäbe sind sowohl auf den erklärten Verzicht als auch auf das zugrunde liegende Kausalgeschäft in der gebotenen Gesamtschau anzuwenden. Ausgangspunkt muss sein, dass das BGB – im Gegensatz zu manchen anderen Rechtsordnungen – einen Erbverzicht und einen Pflichtteilsverzicht grundsätzlich zulässt. Auch wenn das Pflichtteilsrecht...