Dr. iur. Nikolas Hölscher
a) Allgemeines
Rz. 28
Lebt ein näherer Abkömmling zur Zeit des Erbfalls oder war er zumindest gezeugt und wird später lebend geboren (§ 1923 Abs. 2 BGB), so wird ein entfernterer Abkömmling (vgl. § 1924 Abs. 2 BGB) oder Elternteil nur dann durch Verfügung von Todes wegen von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen, wenn der näher Berechtigte die Erbschaft ausgeschlagen (§ 1953 Abs. 1 BGB) oder einen Erbverzicht (§ 2346 Abs. 1 BGB) geleistet hat oder er für erbunwürdig erklärt (§ 2344 Abs. 1 BGB) oder enterbt wurde, wobei der letztgenannte Fall umstritten ist.
b) Erbunwürdigkeit
Rz. 29
Wird der nähere Abkömmling für erbunwürdig erklärt, so tritt die sog. Vorversterbensfiktion ein und es gilt der Anfall der Erbschaft als bei ihm nicht erfolgt (§ 2344 Abs. 1 BGB). Er kann keinen Pflichtteil verlangen. Die Erbunwürdigkeit wirkt auch nicht gegen seine Abkömmlinge oder Eltern, so dass diese den Pflichtteil fordern können, wenn auch sie durch Verfügung von Todes wegen von der Erbschaft ausgeschlossen sind. Jedoch wird häufig eine wirksame Ersatzerbenberufung der entfernteren Pflichtteilsberechtigten vorliegen.
c) Erb- und Pflichtteilsverzicht
Rz. 30
Der Verzicht des näheren Abkömmlings auf sein gesetzliches Erbrecht führt auch hier zur sog. Vorversterbensfiktion (§ 2346 Abs. 1 S. 2 BGB) und kann daher für die entfernteren Pflichtteilsberechtigten eine Pflichtteilsberechtigung kraft eigenen Rechts begründen. Da sich jedoch der Erbverzicht im Zweifel auch auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt (§ 2349 BGB), sind auch diese nicht pflichtteilsberechtigt, wenn sich aus der Verzichtserklärung nichts anderes ergibt.
Rz. 31
Ein Pflichtteilsrecht der Eltern des Erblassers entsteht aus der Erstreckung des Erbverzichts auf die Abkömmlinge nur dann, wenn – entgegen der materiellen Auslegungsregel des § 2350 Abs. 2 BGB – der Erbverzicht nicht nur zugunsten der anderen Abkömmlinge und des Ehegatten des Erblassers wirken sollte, was i.d.R. nicht gewollt ist.
Rz. 32
Der reine Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB) bewirkt keine Änderung der gesetzlichen Erbfolge und somit kann daraus zumindest keine Pflichtteilsberechtigung der entfernter Berechtigten kraft eigenen Rechts entstehen, wenn nicht eine Enterbung des näher Berechtigten hinzukommt.
d) Ausschlagung der Erbschaft
Rz. 33
Mit der Ausschlagung des näher Berechtigten macht dieser den Weg für entferntere Pflichtteilsberechtigte frei, da er diese von der gesetzlichen Erbfolge nicht mehr ausschließt (§ 1953 Abs. 2 BGB). Auch hier tritt also eine Vorversterbensfiktion ein.
Rz. 34
Ob und in welchem Umfang die entfernter Berechtigten einen Pflichtteil fordern können, hängt aber immer noch davon ab, ob dem näher Berechtigten trotz der Ausschlagung ein Pflichtteil verbleibt, was insb. nach § 2306 BGB zu bestimmen ist. Als Faustregel gilt: Soweit der näher Berechtigte noch einen Pflichtteil hat, führt dies zur Kürzung, u.U. zum völligen Wegfall desjenigen des entfernter Berechtigten. Wird ein unbelasteter und unbeschwerter Erbteil ausgeschlagen, der dem Pflichtteil entspricht oder höher ist als dieser, so führt dies zum Verlust des Pflichtteils des näher Berechtigten, auf den Pflichtteil des entfernter Berechtigten ist nichts anzurechnen. Ist der unbelastete Erbteil kleiner als der Pflichtteil, so verbleibt dem näher Berechtigten immerhin noch ein Pflichtteilsrestanspruch, der auf den Pflichtteilsanspruch des entfernter Berechtigten nach § 2309 Alt. 2 BGB anzurechnen ist.
e) Enterbung
aa) Meinungsstand
Rz. 35
Umstritten ist, ob der entferntere Pflichtteilsberechtigte konkret pflichtteilsberechtigt ist, wenn der näher Berechtigte nur enterbt wird. Die überwiegende Auffassung bejaht dies. Die Gegenansicht verneint dies und begründet dies vor allem damit, dass der Gesetzgeber zwar für die Ausschlagung (§ 1953 Abs. 2 BGB), die Erbunwürdigkeit (§ 2344 Abs. 2 BGB) und den unbeschränkten Erbverzicht (§§ 2346 Abs. 1 S. 2, 2349 BGB) eine Regelung getroffen hat, dass der Weggefallene so behandelt wird, als ob er den Erbfall nicht erlebt hätte. Eine solche Vorversterbensfiktion fehlt allerdings für die bloße Enterbung. Da der entferntere Pflichtteilsberechtigte, also etwa der Enkelsohn, daher nach § 1924 Abs. 3 BGB gar nicht in die gese...