Rz. 18

Nach der Entscheidung des EGMR in Sachen Wolter und Sarfert ./. BRD stellt sich die Frage, ob und ggf. wie die deutschen Gerichte die Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung des EGMR überhaupt anwenden können. Gegen eine Anwendung spricht insbesondere der Wortlaut des Art. 12 § 10 Abs. 1 S. 1 NEhelG mit seiner Stichtagsregelung, welche gerade keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorsieht und die Tatsache, dass der Gesetzgeber von Abwägungsentscheidungen im Einzelfall durch die formale Stichtagsregelung absehen wollte. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Bewertungskriterien aus der Entscheidung Wolter und Sarfert ./. BRD im Wege einer teleologischen Erweiterung der Übergangsvorschrift umgesetzt werden können.[35] Und zwar dahingehend, dass § 1589 Abs. 2 BGB a.F. i.V.m. Art. 12 § 10 Abs. 1 S. 1 NEhelG auch bei vor dem 29.5.2009 eingetretenen Erbfällen nicht mehr anzuwenden ist, wenn das Gericht anderenfalls durch seine Entscheidung gegen die EMRK verstoßen würde. Andere sehen erneut den Gesetzgeber gefragt.[36] Der BGH hat jüngst über einen der Sache Brauer ./. BRD vergleichbaren Fall zu entscheiden gehabt und in diesem eine teleologische Erweiterung der Übergangsvorschrift für möglich erachtet.[37] Die Voraussetzungen für eine teleologische Erweiterung hat der BGH dabei wie folgt zusammengefasst (Hervorhebung durch den Autor):[38]

Zitat

"Allgemein setzt die teleologische Erweiterung einer Gesetzesbestimmung eine Regelungslücke voraus. Die Bestimmung muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen. Dass eine gesetzliche Regelung rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist, reicht nicht aus. Ihre Unvollständigkeit erschließt sich vielmehr aus dem gesetzesimmanenten Zweck und kann auch bei einem eindeutigen Wortlaut vorliegen (BFH ZIP 2016, 463 Rn. 37; vgl. auch BVerwG NJW 2013, 2457 Rn. 22; jeweils m.w.N.)."

Dass diese Voraussetzungen im zu entscheidenden Fall auch vorlagen, hat der BGH genau geprüft. Im Ausgangspunkt bleibt festzuhalten, dass die Beschränkung der Rückwirkung der Übergangsvorschrift auf Erbfälle, welche sich ab dem 29.5.2009 ereignet haben, ausdrücklich gewollt war (vgl. Rdn 12). Damit scheinen die Voraussetzungen für eine teleologische Erweiterung der Übergangsvorschrift auf den ersten Blick nicht vorzuliegen. Der BGH hat in seiner Entscheidung jedoch – unter Auswertung der Entstehungsgeschichte – herausgearbeitet, dass der Gesetzgeber sich zwar bewusst für eine Stichtagsregelung entschieden hat, jedoch nicht in Kauf nehmen wollte und auch nicht damit rechnete, dass die Bundesrepublik Deutschland in einem Fall, der dieselben Besonderheiten (DDR-Bezug, bestehendes Näheverhältnis, entfernte gesetzliche Erben) wie die Sache Brauer ./. BRD aufweist, erneut verurteilt werden könnte.[39] Hieraus hat der BGH sodann abgeleitet, dass der Gesetzgeber die Anwendung der Übergangsvorschrift zumindest auf solche "atypischen Fälle“ nicht beabsichtigt habe und eine Regelungslücke bestehe. In einem weiteren Schritt hat der BGH sodann geprüft, ob der zu entscheidende Fall dieselben Besonderheiten aufweist, wie in Sachen Brauer ./.BRD. Nach der Feststellung, dass auch in dem zu entscheidenden Fall ein DDR-Bezug, ein bestehendes Näheverhältnis sowie nur entfernte gesetzliche Erben gegeben waren, hat der BGH eine teleologische Erweiterung bejaht."

 

Rz. 19

 

Praxishinweis

Vorsicht ist geboten! Der BGH hat die Möglichkeit einer teleologischen Erweiterung nur für einen Fall entschieden, der mit der Sache Brauer./.BRD vergleichbar war. Die Besonderheiten lagen in dem DDR-Bezug, dem bestehenden Näheverhältnis zwischen dem Erblasser und dem nichtehelichen Kind sowie der Tatsache, dass der Erblasser zu den gesetzlichen Erben keine Beziehung hatte. Über die Möglichkeit einer teleologischen Erweiterung der Übergangsvorschrift in anderen Fällen ist damit nichts gesagt. Vielmehr hat der BGH in seiner Entscheidung wörtlich auf Folgendes hingewiesen:[40]

"Betrifft die Feststellung des EGMR, dass das Ergebnis einer Gesetzesanwendung die EMRK verletzt, eine Bestimmung des Privatrechts, haben deutsche Gerichte bei der Anwendung der betreffenden Entscheidung auf das Privatrechtsverhältnis zu berücksichtigen, dass sie ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis auszugestalten haben und es insoweit regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen ankommt, was einer schematischen Anwendung der Entscheidung des EGMR entgegensteht (vgl. BVerfGE 128, 326 unter C I 1 f; BVerfGE 111, 307 unter C I 3 a)."

Die Möglichkeit einer teleologischen Erweiterung der Vorschrift bleibt mithin stets im Einzelfall zu prüfen. Die entscheidende Frage dürfte dabei sein, ob das Vorliegen eines "atypischen Falles" begründet werden kann.

 

Rz. 20

Auch die materiell-rechtlichen Auswirkungen der Entscheidung des EGMR in Sachen Wolter und Sarfert ./. BRD auf die ...

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