Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 66
Ist der Vermächtnisnehmer selbst pflichtteilsberechtigt, so bestimmt § 2318 Abs. 2 BGB zum Schutze seines Pflichtteils, dass das Vermächtnis bis zur Höhe des Pflichtteils nicht gekürzt werden darf (sog. Kürzungsgrenze). Damit soll dem pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmer vom Vermächtnis wenigstens ein Wert in Höhe seines Pflichtteils erhalten bleiben. Nur ein über den Pflichtteilsanspruch hinausgehender Mehrbetrag ist kürzungsfähig, dieser aber im vollen Umfang. Diese Bestimmung ist zwingend (§ 2324 BGB), gilt jedoch nicht zugunsten eines Auflagebegünstigten. Soweit der überlebende Ehegatte aus einer Zugewinngemeinschaftsehe mit einem Vermächtnis bedacht und dies angenommen wurde, errechnet sich die Kürzungsgrenze aus dem nach §§ 1371 Abs. 1, 1931 BGB erhöhten (großen) Ehegattenpflichtteil. Dadurch verringern sich der Pflichtteil und damit die Kürzungsgrenze der anderen pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmer. Entsprechendes gilt bei eingetragenen Lebenspartnern, wenn auch hier die Zugewinngemeinschaft galt (§ 6 S. 2 LPartG). Bei der Berechnung des Wertes des Vermächtnisses bleiben dessen Beschwerungen außer Acht (arg. § 2307 Abs. 1 S. 2 BGB).
Beispiel
Witwer W hinterlässt zwei Kinder S und T; Alleinerbe ist der Familienfremde F. Der Nachlasswert beträgt 60.000 EUR. S erhält als Vermächtnis einen Geldbetrag von 15.000 EUR. Der Pflichtteil von T beträgt 15.000 EUR. Nach § 2318 Abs. 1 BGB müssten F und S die Pflichtteilslast im Verhältnis ihrer Erwerbe tragen, also zu 3 : 1, F also zu 11.250 EUR, auf S entfallen 3.750 EUR. Jedoch ist S selbst pflichtteilsberechtigt. Ihm muss daher wenigstens das Vermächtnis in Höhe des Pflichtteils verbleiben. Dies wäre ebenfalls der Betrag von 15.000 EUR. Daher kann F das Vermächtnis nicht kürzen und trägt auch im Innenverhältnis voll die Pflichtteilslast.
Rz. 67
In einer Formel ergibt sich in Anlehnung zur Martin’schen Formel (siehe Rdn 63) für die Berechnung der Kürzungsgrenze nach § 2318 Abs. 2 BGB, wenn der Vermächtnisnehmer selbst Pflichtteilsberechtigter ist:
Rz. 68
Es wäre jedoch unbillig, wenn der durch die Einschränkung des Kürzungsrechts entstehende Ausfall allein vom Erben zu tragen wäre; vielmehr ist er von ihm und den anderen nicht pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmern und Auflagebegünstigten verhältnismäßig zu tragen; denn insoweit verbleibt es bei der Grundregel des § 2318 Abs. 1 BGB. Jedoch ist der hierfür anzuwendende "Umlegungsschlüssel" umstritten, da eine gesetzliche Regelung fehlt. Die wohl überwiegende Ansicht nimmt an, diesen nach dem ursprünglichen Beteiligungsverhältnis am "bereinigten Nachlass" (nach Abzug des Pflichtteils), der dem Erben und dem Vermächtnisnehmer vor Anwendung des ersten Kürzungsrechts zur Verfügung steht, vorzunehmen. Dieckmann gibt hierfür folgendes Beispiel:
Beispiel
Der Nachlass beträgt 400.000 EUR. Pflichtteilsberechtigte sind die Kinder S und T. Erbe ist der Fremde F. T erhält ein Vermächtnis von 120.000 EUR. Kürzungsbefugnis für F bezüglich Vermächtnis der T: (100.000 EUR × 120.000 EUR): 400.000 EUR = 30.000 EUR. Da der Pflichtteil der T nicht unterschritten werden darf, verbleibt der T ein Betrag von 100.000 EUR, nur 20.000 EUR muss sie für den Pflichtteil ihres Bruders S beisteuern. Den Ausfall von 10.000 EUR trägt der Erbe F.
Abwandlung
Es wurde ein weiteres Vermächtnis für D von 80.000 EUR ausgesetzt. Dieses Vermächtnis kann wegen des Pflichtteilsanspruchs des S nach § 2318 Abs. 1 BGB gekürzt werden: (100.000 EUR × 80.000 EUR) : 400.000 EUR = 20.000 EUR. Strittig ist die Verteilung des Ausfallbetrages zwischen D und Erbe F. Nimmt man die Beteiligung am bereinigten Nachlass vor der Anwendung der Kürzungsformel, so ergibt sich: D ist zu 80.000 EUR, F zu 120.000 EUR beteiligt; das ergibt ein Verhältnis von 2 zu 3, umgerechnet auf den Ausfallbetrag von 10.000 EUR eine Beteiligung von D am Pflichtteil des S von 4.000 EUR, von F von 6.000 EUR. Berechnet man die Beteiligung nach der Anwendung der Kürzungsformel, so ergibt sich für F eine Aufteilung von 140.000 EUR und für D 60.000 EUR, also von 7 zu 3, also bezogen auf den Ausfallbetrag von 10.000 EUR von 7.000 EUR für E und 3.000 EUR von D.