Dr. iur. Nikolas Hölscher
aa) Gesetzesänderung durch das Zweite Erbrechtsgleichstellungsgesetz
Rz. 7
Im Verhältnis zwischen Mutter und nichtehelichen Abkömmlingen besteht ohne jede zeitliche Einschränkung ein volles Erb- und Pflichtteilsrecht. Im Verhältnis zwischen dem nichtehelichen Vater und seinen Abkömmlingen war dies lange Zeit anders: Nach Art. 12 § 10 Abs. 2 S. 1 NEhelG besaßen vor dem 1.7.1949 geborene nichteheliche Kinder nach wie vor kein gesetzliches Erbrecht nach ihrem Vater, und umgekehrt, wenn der Erblasser am 3.10.1990 seinen Wohnsitz in den alten Bundesländern hatte (Art. 235 § 1 Abs. 2 EGBGB). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch am 28.5.2009 in der Sache Brauer ./. BRD entschieden, dass diese Differenzierung die vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder in ihren Rechten aus Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 8 EMRK verletzt. Die Gründe für die Regelung seien heute nicht mehr zeitgemäß und könnten die unterschiedliche Behandlung wegen der nichtehelichen Geburt nicht mehr rechtfertigen.
Der Gesetzgeber reagierte auf diese Entscheidung mit dem Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz vom 12.4.2011. Durch dieses wurden für künftige Erbfälle alle vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder den ehelichen Kindern gleichgestellt und sind grundsätzlich gesetzliche Erben nach ihren Vätern. Für Erbfälle vor dem 29.5.2009 hatte der Gesetzgeber jedoch eine Fortgeltung der alten Rechtslage vorgesehen. In zwei Entscheidungen (Mitzinger ./. BRD und Wolter und Sarfert ./. BRD) hat der EGMR auch diese Regelung als für mit der EMRK nicht vereinbar erachtet. Der BGH hat sich in einer Entscheidung mit der Umsetzung dieser Rechtsprechung des EGMR befasst. Die Rechtslage für solche Erbfälle ist dennoch nach wie vor nicht völlig abschließend geklärt.
bb) Rechtslage nach dem Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz
Rz. 8
Aufgrund des Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes ergab sich folgende zeitliche Abstufung:
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Erbfälle ab Inkrafttreten des Gesetzes: Für alle Erbfälle, die nach der Verkündung der Neuregelung eintreten, werden alle vor dem 1.7.1949 geborenen nichtehelichen Kinder den ehelichen Kindern gleichgestellt. Sie werden genau wie diese zu gesetzlichen Erben. |
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Erbfälle ab dem 29.5.2009 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes: Da bei Altfällen vor Inkrafttreten des Gesetzes das Vermögen der Verstorbenen bereits auf die nach alter Rechtslage zunächst berufenen Erben übergegangen ist, sollte die Erbschaft diesen nur in sehr engen verfassungsrechtlichen Grenzen wieder entzogen oder geschmälert werden können. Daher wurde die Neuregelung nur auf solche Todesfälle erweitert, die sich erst nach der Entscheidung des EGMR in Sachen Brauer ./. BRD am 28.5.2009 ereignet haben. Denn ab dieser Entscheidung sollten die nach altem Recht berufenen Erben nicht mehr auf ihre volle Rechtsstellung und damit auf ihr erlangtes Erbe vertrauen können. Das Gesetz trat deshalb rückwirkend zum 29.5.2009 in Kraft. |
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Erbfälle vor dem 29.5.2009: War der Erbfall bereits vor diesem Termin eingetreten, sollte es wegen des verfassungsrechtlich verankerten Rückwirkungsverbots grundsätzlich bei der früheren Rechtslage verbleiben. Eine Ausnahme wurde nur in den Fällen vorgesehen, in denen der Staat selbst zum Erben wurde (§ 1936 BGB), z.B. weil es weder Verwandte noch Ehegatten oder eingetragene Lebenspartner gab oder weil die Erbschaft ausgeschlagen wurde. Dann hat der Staat den Wert des von ihm ererbten Vermögens an die betroffenen nichtehelichen Kinder auszuzahlen. |
Der BGH und das BVerfG sahen in der neuen Stichtagsregelung keinen Rechtsverstoß.
Mit Urteil vom 9.2.2017 entschied der EGMR in Sachen Mitzinger ./. BRD jedoch, dass die Regelung in Art. 12 § 10 Abs. 1 S. 1 NEhelG die EMRK (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt. In Sachen Wolter und Sarfert ./. BRD urteilte der EGMR am 23.3.2017 und nahm eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK durch die Übergangsregelung in Art. 12 § 10 Abs. 1 S. 1 NEhelG an. In dieser Entscheidung legte der EGMR Kriterien einer Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Frage nach der Zulässigkeit der Einführung einer Stichtagsregelung fest. Maßgeblich sein sollten der Kenntnisstand erbberechtigter Personen von dem nichtehelichen Kind, der rechtliche Status der betroffenen erbrechtlichen Positionen, die bis zur Klageerhebung verstrichene Zeit und ob durch das nationale Recht eine finanzielle Entschädigung für den Verlust des Erbrechts gewährt wird.
Teilweise wurde daraufhin die Auffassung vertreten, dass die Bewertungskriterien aus der Entscheidung Wolter und Sarfert ./. BRD im Wege einer teleologischen Erweiterung der Übergangsvorschrift umgesetzt werden können. Und zwar dahingehe...