Dr. iur. Nikolas Hölscher
(1) Fall der einfachen Enterbung
Rz. 36
Der dargestellte Meinungsstreit (siehe Rdn 35) ist im Normalfall der Enterbung eines Kindes und seiner Abkömmlinge ohne praktische Bedeutung. Ein Pflichtteilsanspruch der Enkel scheitert dann nach der Mindermeinung bereits daran, dass sie wegen des Repräsentationsprinzips des § 1924 Abs. 2 BGB überhaupt nicht zum Kreis der gesetzlichen Erben und demnach auch nicht zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehören. Nach der h.M. und dem BGH entfallen ihre Pflichtteilsansprüche wegen § 2309 BGB, da bereits ein näherer Abkömmling den Pflichtteil verlangen kann. Der Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings schadet aber nicht, wenn der nähere den zu Unrecht geforderten Pflichtteil erhält.
(2) Sonderfall: Pflichtteilsentziehung beim näheren Abkömmling und Enterbung des entfernteren Abkömmlings
Rz. 37
Der Theorienstreit wird aber in dem vom BGH entschiedenen Fall bedeutsam, weil dem näher berechtigten Abkömmling dessen Pflichtteil wirksam entzogen wurde. Dann gibt es auf Grundlage der überwiegenden Meinung nichts, was den pflichtteilsentfernteren Abkömmling nach § 2309 BGB ausschließen könnte. Nach der überwiegenden Auffassung, die der BGH gebilligt hat, wird der näher Pflichtteilsberechtigte durch seine Enterbung wie vorverstorben behandelt, so dass nunmehr der Enkel pflichtteilsberechtigt ist. Wegen der Pflichtteilsentziehung des Sohnes droht in dem vom BGH entschiedenen Fall keine Verdoppelung von Pflichtteilsansprüchen mehr, so dass der enterbte Enkel nunmehr einen Pflichtteilsanspruch gegen seinen Bruder, der zum Erben eingesetzt wurde, hat, und zwar in Höhe eines Viertels (§ 2303 Abs. 1 S. 1 BGB).
(3) Sonderfall: Elternpflichtteil und Pflichtteilsverzicht
Rz. 38
Noch nicht abschließend geklärt ist, ob sich aus dieser Rspr. zur analogen Anwendung der Vorversterbensfiktion auf die Enterbung des näher Pflichtteilsberechtigten für eine gängige Testamentsgestaltung unliebsame, bisher nicht bedachte Folgen ergeben. Dies betrifft folgende häufige Gestaltung: Bei der Errichtung eines Berliner Testaments von Ehegatten (§ 2269 BGB) entstehen durch die gegenseitige Erbeinsetzung der Eheleute für den Fall des Todes des Erstversterbenden für ihre Abkömmlinge Pflichtteilsansprüche. Dies versucht man u.a. dadurch zu vermeiden, dass die Kinder für den Fall des Todes des Erstversterbenden ihrer Eltern einen Pflichtteilsverzicht abgeben. Dieser wirkt wegen der Erstreckungswirkung des § 2349 BGB auch gegen die Abkömmlinge der verzichtenden Kinder, was regelmäßig auch so gewollt ist. Probleme entstehen aber dann, wenn der zuerst verstorbene Ehegatte daneben auch noch einen Elternteil hinterlässt. Auf der Grundlage der überwiegenden Auffassung (siehe Rdn 35) entsteht durch die Enterbung aller Abkömmlinge dann ein Pflichtteilsanspruch der Eltern gem. § 2303 Abs. 1 BGB. Dieser wird auch nicht durch § 2309 BGB ausgeschlossen, da wegen des Pflichtteilsverzichts der Kinder mit Wirkung auch gegen ihre Abkömmlinge (§ 2349 BGB) auch alle Pflichtteilsansprüche der Abkömmlinge ausgeschlossen sind. Massive Probleme entstehen dann, wenn sich ein Elternteil in einem Pflegeheim befindet und Sozialleistungen erhält (zu dieser Problematik auch nachstehend, siehe Rdn 41). Denn der Sozialhilfeträger könnte dann zur Deckung der Heimkosten und zur Wiederherstellung des Nachrangs der Sozialhilfe den Pflichtteilsanspruch nach § 93 SGB XII überleiten. Ob man hier durch eine einschränkende Auslegung des Pflichtteilsverzichts helfen kann, ist – soweit ersichtlich – noch nicht richterlich entschieden worden. Zur Vermeidung dieses Problems wird empfohlen, den Pflichtteilsverzicht der Abkömmlinge unter der Bedingung zu erklären, dass er nur gelten soll, falls beim Tod des Längerlebenden keine Elternpflichtteile bestehen oder geltend gemacht werden. Aber dann gelangt man in einem solchen Fall wieder zum Pflichtteilsanspruch der Abkömmlinge, der eigentlich vermieden werden sollte.