Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 42
Um Bedeutung und Reichweite des § 2309 BGB geht es auch in dem Urteil des BGH vom 27.6.2012. Die Entscheidung macht abermals deutlich, wie gefährlich die Abgabe eines Erbverzichts ist.
Beispielsfall
In dem entschiedenen Fall macht die Klägerin gegen ihre Mutter Pflichtteilsansprüche nach deren am 20.2.2005 verstorbenem Vater (Erblasser) in Höhe der Hälfte des Nachlasswertes geltend. Der Erblasser und die Mutter der Beklagten errichteten am 23.11.1987 ein gemeinschaftliches Testament in notarieller Form, mit dem sie sich gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen Erben einsetzten und ihre Enkelkinder zu Schlusserben bestimmten. Dem Überlebenden wurde das Recht vorbehalten, aus dem Kreis der gemeinschaftlichen Abkömmlinge abweichende Schlusserben zu bestimmen. Am selben Tag verzichtete die beklagte Tochter gegenüber ihren Eltern allein für ihre Person, nicht aber für ihre Abkömmlinge, auf das ihr zustehende gesetzliche Erb- und Pflichtteilsrecht.
Nach dem Tod seiner Ehefrau setzte der Erblasser mit notariellem Testament im Jahre 2000 die beklagte Tochter zu seiner alleinigen und ausschließlichen Erbin ein und bestimmte die klagende Enkelin zur Ersatzerbin. Die Parteien sind die einzigen Abkömmlinge des Erblassers und seiner vorverstorbenen Ehefrau.
Mit der Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten Zahlung i.H.v. 85.000 EUR nebst Zinsen sowie Auskunft über den Bestand des Nachlasses und Einholung eines Wertermittlungsgutachtens. Die Parteien streiten darüber, ob § 2309 BGB einer Pflichtteilsberechtigung der Klägerin entgegensteht. Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg.
Rz. 43
Abweichend hiervon hält der BGH die Klägerin für pflichtteilsberechtigt. Er hat daher die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Zwar sei die beklagte Mutter grundsätzlich der nähere und als solcher vorrangige Abkömmling des Erblassers. Jedoch hat sie auf ihr Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet. Damit gilt sie als "vorverstorben" (§ 2346 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 BGB). Dadurch ist die Enkelin in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge eingerückt. Ihre Pflichtteilsberechtigung als entfernterer Abkömmling wird daher nicht mehr durch ihre Mutter i.S.v. § 2309 Alt. 1 BGB ausgeschlossen. Aber auch § 2309 Alt. 2 BGB stünde der Pflichtteilsberechtigung der Enkelin nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist allerdings der entferntere Pflichtteilsberechtigte vom Pflichtteil insoweit ausgeschlossen, als der näher Berechtigte das ihm "Hinterlassene" annimmt. Dieser Ausschlusstatbestand ist aber nach Auffassung des BGH hier nicht deswegen gegeben, weil der Erblasser der Tochter durch das Änderungstestament die Stellung als Alleinerbin zuwandte. Der BGH begründet dies sehr ausführlich mit der Entstehungsgeschichte des BGB und dem Normzweck der Bestimmung. Danach war es erklärtes Ziel des Gesetzgebers zu verhindern, dass demselben Stamm zweimal der Pflichtteil gewährt wird. Vielmehr ist Normzweck des § 2309 BGB, eine Pflichtteilsvervielfältigung zulasten des Nachlasses auszuschließen. Mit dem Wortlaut des § 2309 BGB ist der Gesetzgeber auch für den Fall des verzichtsbedingten Aufrückens eines entfernten Abkömmlings in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge nicht von diesem tragenden Prinzip abgegangen, eine Doppelbegünstigung des Stammes des ausgeschiedenen, grundsätzlich vorrangig Berechtigten sowie die Vervielfältigungen der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslasten auszuschließen. Im vorliegenden Fall werde aber die Erbfolge nach dem Vater bzw. Großvater der Beteiligten nicht von diesem Normzweck erfasst. Denn gehören der trotz des Erb- und Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmte nähere Abkömmling und der entferntere Pflichtteilsberechtigte dem einzigen Stamm gesetzlicher Erben an, so berühren die Zuwendungen nur das Innenverhältnis dieses Stammes. Bleiben solche Zuwendungen – hier die testamentarische Erbeinsetzung der Beklagten – bei der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen daher unberücksichtigt, so droht dem Nachlass gerade keine Vervielfältigung der Pflichtteilslast, wie dies durch § 2309 BGB vermieden werden soll.
Rz. 44
Das Urteil wird allgemein kritisiert. Es vermag auch nur schwer zu überzeugen. Denn der Wortlaut des § 2309 Alt. 2 BGB spricht gegen das vom BGH angenommene Ergebnis. Liegt es doch am nächsten, unter dem, was dem näher berechtigten Abkömmling "hinterlassen" wird, dasjenige zu verstehen, was die Tochter als Erbschaft bekommt. Aus diesem erhält die Enkelin zudem nach dem Tod ihrer Mutter zumindest auch noch einmal ihren Pflichtteil.
Rz. 45
Wenn man von diesem klaren Wortlaut der Norm abgeht, so kann dies nur durch eine teleologische Reduktion geschehen. Der BGH macht diesen methodologischen Ansatz nicht deutlich und argumentiert mit der Entstehungsgeschichte der Norm. Diese ist allerdings keineswegs klar. Zu Recht hat Raape in der Festschrift für Haaf von einer "dunklen, schwer verständlichen Vorschrift" gesprochen. Statt der zu sehr historischen Ausleg...