Dr. iur. Nikolas Hölscher
1. Grundzüge des § 2309 BGB
Rz. 23
Die Pflichtteilsansprüche zwischen Ehegatten bzw. Lebenspartnern und den Abkömmlingen konkurrieren miteinander. Die Rangfolge der Pflichtteilsberechtigung zwischen mehreren Abkömmlingen untereinander und zwischen Abkömmlingen im Verhältnis zu den Eltern regelt § 2309 BGB – eine wenig verständliche Vorschrift, die viele Rätsel aufgibt, zu der es jedoch eigenartigerweise erst in jüngerer Zeit veröffentlichte Rspr. gibt.
Rz. 24
§ 2309 BGB ergänzt die in § 2303 BGB geregelte abstrakte Pflichtteilsberechtigung im Verhältnis der Abkömmlinge und der Eltern des Erblassers. Das Pflichtteilsrecht soll zwar gewährleisten, dass die Pflichtteilsberechtigten die Hälfte des Nachlasses für ihre enttäuschten Erberwartungen erhalten, aber auch nicht mehr. Zweck des § 2309 BGB ist dabei zu verhindern, dass es durch die in § 2303 BGB bestimmte Vielzahl von Pflichtteilsberechtigten zu einer "Vervielfältigung der Pflichtteilslast" kommt. Demselben Stamm darf der Pflichtteil nicht zwei Mal gewährt werden. In der Regel geschieht dies systemimmanent nach § 2303 BGB dadurch, dass beim Vorhandensein von näheren Abkömmlingen die vom Erblasser nicht bedachten Eltern oder entfernteren Abkömmlinge bereits unmittelbar durch das Gesetz von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen sind (§§ 1924 Abs. 2, 1930 BGB). Ein Pflichtteilsrecht entfällt daher für sie schon deshalb, weil es an dem dafür nötigen Ausschluss "durch Verfügung von Todes wegen" fehlt.
Rz. 25
Problematisch sind aber die Fälle, in denen der nähere Abkömmling wegfällt und dafür die entfernteren Abkömmlinge oder Eltern des Erblassers aufrücken, aber andererseits der weggefallene nähere Pflichtteilsberechtigte selbst pflichtteilsberechtigt bleibt (siehe Rdn 29 ff.) oder aber aus dem Nachlass eine Zuwendung von Todes wegen erhält, die den Pflichtteil ganz oder wenigstens teilweise deckt.
Rz. 26
Diesem Normzweck entsprechend hat die Bestimmung keine eigenständig pflichtteilsbegründende Funktion, sondern schränkt nur eine an sich gegebene Pflichtteilsberechtigung wieder ein.
2. Voraussetzungen des Pflichtteilsrechts der entfernter Berechtigten
Rz. 27
Da § 2309 BGB nur eine nach § 2303 BGB an sich gegebene Pflichtteilsberechtigung einschränkt, müssen für die konkrete Pflichtteilsberechtigung der entfernteren Abkömmlinge und der Eltern des Erblassers zwei Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein:
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Die Pflichtteilsberechtigung aus eigenem Recht des Anspruchsstellers (siehe Rdn 28 ff.); hierzu gehört, dass der nähere Pflichtteilsberechtigte "weggefallen" ist, also § 1924 Abs. 2 BGB der Pflichtteilsberechtigung des entfernteren nicht entgegensteht; |
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der weggefallene Pflichtteilsberechtigte weder einen Pflichtteil verlangen konnte noch das ihm u.U. Hinterlassene angenommen hat (siehe Rdn 28 ff.). Konnte der näher Berechtigte den Pflichtteil teilweise verlangen oder erhielt er ihn teilweise, führt dies zur Kürzung des Pflichtteils der entfernter Berechtigten (siehe Rdn 39 ff.). |
3. Pflichtteilsberechtigung aus eigenem Recht
a) Allgemeines
Rz. 28
Lebt ein näherer Abkömmling zur Zeit des Erbfalls oder war er zumindest gezeugt und wird später lebend geboren (§ 1923 Abs. 2 BGB), so wird ein entfernterer Abkömmling (vgl. § 1924 Abs. 2 BGB) oder Elternteil nur dann durch Verfügung von Todes wegen von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen, wenn der näher Berechtigte die Erbschaft ausgeschlagen (§ 1953 Abs. 1 BGB) oder einen Erbverzicht (§ 2346 Abs. 1 BGB) geleistet hat oder er für erbunwürdig erklärt (§ 2344 Abs. 1 BGB) oder enterbt wurde, wobei der letztgenannte Fall umstritten ist.
b) Erbunwürdigkeit
Rz. 29
Wird der nähere Abkömmling für erbunwürdig erklärt, so tritt die sog. Vorversterbensfiktion ein und es gilt der Anfall der Erbschaft als bei ihm nicht erfolgt (§ 2344 Abs. 1 BGB). Er kann keinen Pflichtteil verlangen. Die Erbunwürdigkeit wirkt auch nicht gegen seine Abkömmlinge oder Eltern, so dass diese den Pflichtteil fordern können, wenn auch sie durch Verfügung von Todes wegen von der Erbschaft ausgeschlossen sind. Jedoch wird häufig eine wirksame Ersatzerbenberufung der entfernteren Pflichtteilsberechtigten vorliegen.
c) Erb- und Pflichtteilsverzicht
Rz. 30
Der Verzicht des näheren Abkömmlings auf sein gesetzliches Erbrecht führt auch hier zur sog. Vorversterbensfiktion (§ 2346 Abs. 1 S. 2 BGB) und kann daher für die entfernteren Pflichtteilsberechtigten eine Pflichtteilsberechtigung kraft eigenen Rechts begründen. Da sich jedoch der Erbverzicht im Zweifel auch auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt (§ 2349 BGB), sind auch diese nicht pflichtteilsberechtigt, wenn sich aus der Verzichtserklärung nichts anderes ergibt.
Rz. 31
Ein Pflichtteilsrecht der Eltern des Erblassers entsteht aus der Erstreckung des Erbverzichts auf ...