Dr. iur. Alexander Weinbeer
Rz. 854
Die Bearbeitung eines versicherungsvertraglichen Mandates ohne genaue Kenntnis der einschlägigen Vertragsbestimmungen und Versicherungsbedingungen ist ein absolutes "no go". Hier kann man sich auch nicht dadurch behelfen, dass man – was recht häufig bei Mandanten der Fall ist – die Lektüre der aktuell einschlägigen Vertragsunterlagen durch eine Sichtung von Musterbedingungen im Internet oder in einschlägigen Standardkommentaren ersetzt.
Rz. 855
Praxistipp
In letzter Zeit werden Anwälte nach verlorenen Prozessen gehäuft von ihren (vermeintlich) rechtsschutzversicherten Mandanten auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch genommen, weil ein Rechtsschutzversicherer nicht wie erwartet die Kosten übernimmt. Solche unangenehmen Weiterungen lassen sich nur auf zwei Wegen vermeiden: Entweder lehnt man zu Beginn des Mandats eindeutig eine Erklärung der Rechtsschutzfragen ab oder aber man übernimmt gegen ein Entgelt die genaue Überprüfung dessen, was ein Rechtsschutzversicherer zahlt. Hinsichtlich eines solchen Entgelts sollte man sich vergegenwärtigen, dass die gesetzlichen Gebühren dabei aus dem Wert der voraussichtlichen Prozesskosten ermittelt werden und daher häufig sehr gering sind.
Rz. 856
Im versicherungsrechtlichen Mandat sind Umfang und Grenzen des Versicherungsschutzes (wie etwa Selbstbehaltsregelung oder Ausschlussklauseln) aber nicht allein anhand der vertraglichen Bestimmungen, sondern auch mit Rücksicht auf die allgemeinen Vorschriften des VVG zu bestimmen.
Rz. 857
Nach § 83 VVG kann unter dem Gesichtspunkt des Rettungskostenersatzes selbst ein ungedeckter Posten vom Versicherer zu erstatten sein. Daneben besteht in der Haftpflichtversicherung auch Rechtsschutz nach Maßgabe des § 101 VVG.
Rz. 858
Darüber hinaus gilt es, Kooperationsobliegenheiten gegenüber dem Versicherer einzuhalten. Vertritt man den Versicherungsnehmer nach einem Schadenfall, so hat man die einschlägigen Pflichten zur Schadensanzeige innerhalb bestimmter Fristen beim Versicherer, die Schadenminderungsobliegenheiten sowie die Weisungsrechte des Versicherers zu beachten.
Rz. 859
Das Weisungsrecht des Versicherers kann so weit gehen, dass er in sog. Prozessmundschaft mithilfe von Vertrauensanwälten Rechtsstreitigkeiten für den Versicherungsnehmer führt. Es kann daher sein, dass ein nicht abgestimmtes Vorgehen zur Folge hat, dass der Versicherer Prozesskosten nicht übernimmt. Nach § 86 Abs. 3 VVG ist dem Versicherer der Rückgriff bei Dritten offenzuhalten.
Rz. 860
Die vornehmste Obliegenheit des Versicherungsnehmers ist es aber, den Versicherer vollständig und wahrheitsgemäß über alle gefahrrelevanten Umstände zu informieren. Diese Verpflichtung setzt schon vor Abschluss des Versicherungsvertrags ein und überdauert das ganze Vertragsverhältnis, da gerade Versicherungsverträge im Besonderen von den Grundsätzen nach Treu und Glauben des § 242 BGB geprägt sind.
Rz. 861
Praxistipp
Offenheit und Ehrlichkeit sowie Sachlichkeit gegenüber dem Versicherer ist oberstes Gebot. Die Nichtbeachtung dieser Grundsätze kann nämlich rasch zur Schutzlosigkeit des Versicherungsnehmers führen, weil das Versicherungsvertragsgesetz den Versicherern in mehreren Vorschriften die Möglichkeit zur Kündigung des Versicherungsvertrags bis hin zur Anfechtung und dem Rücktritt vom Versicherungsvertrag einräumt.
Rz. 862
Aber auch auf Seiten des geschädigten Dritten können derartige Pflichten bestehen, etwa wenn es sich um einen pflichtversicherten Schadenfall handelt (§ 119 VVG). Spekuliert ein Geschädigter darauf, sich die Nachlässigkeiten eines völlig passiven und untätigen Schädigers nutzbar zu machen, indem er diesen Schädiger ohne eine Benachrichtigung dessen Versicherers gem. § 119 VVG verklagt, kann sich ein für ihn positives Haftpflichturteil schnell als Pyrrhussieg erweisen:
Rz. 863
Dies, weil das Urteil keine Bindungswirkung für das Deckungsverhältnis zum Versicherer entfaltet und eventuell auch noch die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag nach § 12 VVG a.F. oder §§ 195, 199 VVG verjährt sind (vgl. zu Trennungsprinzip und Bindungswirkung noch einmal oben Rdn 840).
Rz. 864
Denn die Bindungswirkung eines Urteils im Haftpflichtprozess tritt nur dann ein, wenn der Versicherer vom Haftpflichtprozess weiß und dem Versicherungsnehmer freie Hand lässt oder zumindest so rechtzeitig vom Erlass eines Urteils und dadurch vom Haftpflichtprozess selbst Kenntnis erhält, dass er aufgrund der in den AVB eingeräumten Prozessführungsbefugnis in die Lage versetzt wird, den Prozess für den Versicherungsnehmer weiterzuführen.
Rz. 865
Keine Bindungswirkung entsteht, falls der Versicherer keine Kenntnis von der Inanspruchnahme seines Versicherungsnehmers hat und er sich der Erfüllung der Rechtsschutzverpflichtung auch nicht mit einer Deckungsablehnung entzogen hat, mit der er dem Versicherungsnehmer konkludent zur Regulierung freie Hand gelassen und seine dargestellte umfassende Dispositionsbefugnis über das Haftpflichtverhältnis aufgegeben haben würde.