Dr. iur. Alexander Weinbeer
I. Allgemein
Rz. 634
Das Medizinrecht weist sowohl im materiell als auch im prozessualen Recht Besonderheiten auf und birgt damit Haftungsrisiken. Vor allem das Arzthaftungsrecht stellt eine anspruchsvolle Materie dar, sowohl für den Anwalt des Arztes als auch für den Patientenanwalt.
Rz. 635
Im Bereich der prozessrechtlichen Bezüge der Arzthaftung haben die Komplexe "Tatsachenermittlung" und "Substantiierungslast" eine besondere Bedeutung erlangt. Der BGH hat mit Beschl. v. 1.3.2016 seine Linie bestätigt, wonach an die Informations- und Substantiierungspflichten der Parteien, insbesondere der Patientenseite, im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen gestellt werden dürfen. Insbesondere sind weder Patient noch sein Prozessbevollmächtigter verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Allerdings genügt es nicht, wenn lediglich in formelhafter und pauschaler Weise Tatsachenbehauptungen aufgestellt werden, ohne diese zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt in Beziehung zu setzen.
Rz. 636
Als Alternative zum Klageverfahren ist gerade im Medizinrecht auch an die Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens nach §§ 485 ff. ZPO zu denken (vgl. Rdn 469 ff.). Viele Rechtsanwälte auf Patientenseite bevorzugen dieses gegenüber dem Verfahren vor der Gutachterkommission/Schlichtungsstelle, denn dort können sie dem Gericht einen Gutachter ihrer Wahl vorschlagen. Oftmals bestehen Bedenken gegen die Objektivität des Verfahrens vor der Ärztekammer. Nachteilig am selbstständigen Beweisverfahren ist jedoch, dass gem. § 485 Abs. 2 ZPO die Partei nur die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen kann, nicht jedoch dessen persönliche Vernehmung oder die Vernehmung eines Zeugen in Anwesenheit des Sachverständigen. Dies sieht die ZPO nicht vor.
Rz. 637
Die Haftung des gerichtlich bestellten Sachverständigen nach § 839a BGB soll Anreize in Richtung auf die Erstellung korrekter Gutachten setzen. Allerdings entfällt die Haftung, wenn der Rechtsstreit nicht durch eine gerichtliche Entscheidung, sondern durch einen Vergleich beendet wurde. Sehr weit geht es, als Rechtsmittel i.S.v. § 839a Abs. 2 i.V.m. § 839 Abs. 3 BGB grds. auch die Einholung eines privaten Gutachtens anzusehen.
II. Arzthaftungsprozess
Rz. 638
In Arzthaftungsprozessen werden sowohl materielle als auch immaterielle Schadenspositionen geltend gemacht. Besonderes Augenmerk sollte der mandatierte Rechtsanwalt auf die Antragstellung legen. Neben dem Antrag auf Schmerzensgeld ist auch unter den Voraussetzungen des § 256 ZPO ein umfassender Feststellungsantrag für alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die nicht vom Schmerzensgeldantrag umfasst sind, zu stellen (vgl. Rdn 700, 743 ff.).
Rz. 639
Bei schwersten Dauerschäden des Patienten ist der Richter ohne dagegensprechende weitere Gründe gehalten, sein Ermessen gem. § 287 ZPO dahin auszuüben, dass er dem Antrag des Geschädigten auf Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente neben einem Kapitalbetrag stattgibt. Wie der BGH im Urt. v. 4.6.1996 feststellte, ist ein schwerer Dauerschaden bspw. gegeben, wenn die Klägerin
Zitat
"in einer Intensität, die ihre Lebensführung auf Dauer entscheidend bestimmt, den unfallbedingten Schäden ausgesetzt ist. Das gilt nicht nur für die körperlichen Defizite (z.B. die Beinverkürzung) und die Sehschärfeneinschränkung sowie die Gesichtsfeldausfälle, sondern auch und vor allem für das unfallbedingte Anfallsleiden, die Wesensveränderung, die Verlangsamung des Denkablaufs, die Affektlabilität und die Antriebsminderung. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bedarf die Klägerin wegen dieser Schäden der ganztägigen Unterstützung durch Dritte; sie ist immer wieder Zuständen der Hilflosigkeit ausgesetzt und auf eine behütende Umgebung angewiesen."
Rz. 640
Ist die Verletzung jedoch so schwerwiegend, dass angesichts der gesundheitlichen Beeinträchtigung von einer kürzeren Lebensdauer ausgegangen werden muss, so kann bei der Feststellung der Größenordnung des zugesprochenen Gesamtschmerzensgeldes nicht ohne weitere Begründung von einem Kapitalwert der Rente ausgegangen werden, wie er sich aufgrund einer statistischen Durchschnittslebenserwartung der Gesamtbevölkerung errechnet.
Rz. 641
Die Verjährung beginnt im Arzthaftungsprozess zu laufen, wenn sich für den Patienten das Vorliegen eines Behandlungsfehlers geradezu aufdrängen muss. Allerdings kann von einem Patienten bzw. seinem gesetzlichen Vertreter oder Wissensvertreter nicht erwartet werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler hin überprüft. Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn es um Feststellungen geht, die sich ohne Weiteres treffen lassen, wie etwa die Feststellung der Namen der ihn behandelnden Ärzte. Für den Beginn der Verjährungsfrist kommt es nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen, nicht ...