Rz. 179

Durch das Zweite Schadensrechtsänderungsgesetz sind Kinder, die das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, seit dem 1.8.2002 für einen Schaden, den sie bei einem Unfall im motorisierten Verkehr, mit einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügen, nicht verantwortlich – es sei denn, dass sie die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt haben.

 

Rz. 180

Die Heraufsetzung der Verantwortlichkeit von Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres für einen Schaden, den sie im motorisierten Verkehr einem anderen zufügen, war eines der Hauptanliegen des Zweiten Schadensrechtsänderungsgesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung der Kinder im motorisierten Verkehr. Dies war beispielsweise bereits von den Deutschen Verkehrsgerichtstagen 1983 und 2000 gefordert worden. Diese Heraufsetzung der Verantwortlichkeit für Kinderunfälle im motorisierten Verkehr geht auf die psychologische Erkenntnis zurück, dass Kinder aufgrund ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten nach Vollendung des zehnten Lebensjahres überhaupt erst imstande sind, die besonderen Gefahren des Straßenverkehrs zu erkennen und sich entsprechend diesen Gefahren zu verhalten. Durch die Neuregelung in § 828 Abs. 2 S. 1 BGB ist für Unfälle ab dem 1.8.2002 die Rechtstellung von Kindern sowohl als Täter als auch als Opfer im motorisierten Verkehr wesentlich verbessert worden.

 

Rz. 181

 

Beachte

Die Anhebung der Verantwortlichkeitsgrenze für Kinder bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres gilt jedoch nur und ausschließlich für Unfälle im motorisierten Verkehr. Soweit beispielsweise ein neunjähriges Kind als Fußgänger, Roller- oder Radfahrer einen anderen Fußgänger oder Radfahrer schädigt, bleibt es bei der Verantwortungsgrenze von sieben Jahren gemäß § 828 Abs. 1 BGB.

Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 S. 1 BGB greift nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift allerdings nur dann ein, wenn sich eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat (BGH std. Rspr. seit BGH zfs 2005, 174, 175 ff. und BGH zfs 2005, 177 ff.).

 

Rz. 182

Der BGH hat durch seine Rechtsprechung – gegen den Gesetzeswortlaut – eine teleologische Reduktion des Haftungsausschlusses vorgenommen. In den nachfolgend genannten inzwischen sechs Entscheidungen hat der BGH klargestellt, wann von einer solchen Überforderungssituation, welche allein die Anwendung des Haftungsprivilegs rechtfertigt, auszugehen ist:

kein Haftungsausschluss bei der Beschädigung eines ordnungsgemäß parkenden Pkw durch einen neunjährigen Kickboardfahrer (BGH zfs 2005, 174 = VersR 2005, 376 = r+s 2005, 80 = DAR 2005, 146),
kein Haftungsausschluss bei der Beschädigung eines ordnungsgemäß parkenden Pkw durch ein neunjähriges, mit dem Fahrrad fahrendes Kind (BGH zfs 2005, 177 = VersR 2005, 380 = r+s 2005, 82 = DAR 2005, 148; BGH VersR 2005, 378 = r+s 2006, 254 = NZV 2005, 185 = DAR 2005, 150),
Haftungsausschluss bei Kollision eines achtjährigen Fahrradfahrers mit einem im fließenden Verkehr verkehrsbedingt haltenden Pkw, auch wenn der stehende Pkw für das Kind ein plötzliches Hindernis bildete, mit dem es nicht rechnete (BGH zfs 2007, 435 = VersR 2007, 855 = r+s 2007, 300 = DAR 2007, 454),
Haftungsausschluss, wenn ein achtjähriges Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad loslässt und dieses führungslos gegen ein vorbeifahrendes Fahrzeug rollt (BGH zfs 2008, 80 = VersR 2007, 1669 = r+s 2008, 32 = DAR 2008, 77),
Haftungsausschluss, wenn ein Kind mit dem Fahrrad gegen einen mit geöffneten hinteren Türen am Fahrbahnrand stehenden Pkw fährt (BGH zfs 2008, 373 = VersR 2008, 701 = r+s 2008, 213 = DAR 2008, 336).
 

Rz. 183

Der BGH hat insbesondere mit der letztgenannten Entscheidung klargestellt, dass es bei der Frage, ob eine typische Überforderungssituation für das Kind aufgrund der spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs vorliegt, nicht darauf ankommt, ob sich der Unfall im ruhenden oder fließenden Verkehr ereignet, wenngleich die typische Überforderungssituation im fließenden Verkehr häufiger auftreten wird (BGH a.a.O.). Zudem hat der BGH klargestellt, dass es für das Eingreifen des Haftungsprivilegs nicht darauf ankommt, ob sich die typische Überforderungssituation auch konkret ausgewirkt hat oder das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten (BGH zfs 2007, 435 = VersR 2007, 855 = r+s 2007, 300 = DAR 2007, 454). Der Geschädigte, der sich darauf beruft, trägt die Beweislast dafür, dass sich nach den Umständen des Falles die typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs bei einem Unfall nicht realisiert hat (BGH v. 30.6.2009 – VI ZR 310/08 – zfs 2009, 673 = r+s 2009, 385).

 

Rz. 184

 

Beachte

Bei Unfällen im motorisierten Verkehr wird Kindern unter zehn Jahren durch die Neuregelung des § 828 Abs. 2 BGB eine Mitverantwortung weder als Täter noch als Opfer angelastet. Das bedeutet, dass es wegen der fehlenden Deliktsfähigkeit selbst...

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