Rz. 926
§ 1611 Abs. 1 Satz 1 katalogisiert zwei Fallgruppen sowie einen Auffangtatbestand. Die drei jeweiligen Tatbestände des Katalogs sind eindeutig voneinander abzugrenzen.
Rz. 927
Der Unterhaltsanspruch nach §§ 1601 ff. kann gem. § 1611 Abs. 1 Satz 1 auf einen Billigkeitsbeitrag zum Unterhalt herabgesetzt werden, wenn der Unterhaltsgläubiger
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durch sein sittliches Verschulden bedürftig geworden ist, oder |
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seine eigene Unterhaltspflicht gegenüber dem Unterhaltsschuldner gröblich vernachlässigt hat, oder |
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sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltsschuldner oder einen nahen Angehörigen des Unterhaltsschuldners schuldig gemacht hat. |
Rz. 928
Praxistipp
Die Frage der groben Unbilligkeit lässt sich regelmäßig ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse des Unterhaltsschuldners nicht beurteilen.
(1) Bedürftigkeit infolge sittlichen Verschuldens
Rz. 929
Zur Verwirkung des Unterhaltsanspruchs reicht die vorsätzliche oder fahrlässige Herbeiführung der Bedürftigkeit nicht aus. Unter sittlichem Verschulden sind vielmehr vorwerfbare Verstöße gegen die auf der Verwandtschaft beruhenden sittlichen Pflichten zu verstehen. Der Tatbestand setzt sittliches Verschulden von erheblichem Gewicht voraus. Das Verschulden muss für die Bedürftigkeit ursächlich sein, und die Folgen des sittlichen Verschuldens müssen noch andauern. Der Tatbestand entfällt daher bei Unterbrechung des Kausalzusammenhangs. Es ist die Feststellung erforderlich, dass der Unterhalt begehrende Verwandte in besonderer Weise verantwortungslos gehandelt hat bzw. handelt.
(2) Gröbliche Vernachlässigung eigener Unterhaltspflichten
Rz. 930
Gröbliche Vernachlässigung eigener Unterhaltspflichten des Unterhalt begehrenden Verwandten können dazu führen, dass ihm später bei eigener Bedürftigkeit Unterhalt versagt werden kann.
(3) Vorsätzliche schwere Verfehlung (Auffangtatbestand)
Rz. 931
Der Auffangtatbestand begrenzt bei bestimmten Fallgestaltungen als negative Billigkeitsklausel einen bestehenden Unterhaltsanspruch. Gem. § 1611 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 setzt die Verwirkung wegen einer schweren Verfehlung ein Verschulden des Unterhaltsberechtigten voraus. Es reicht nicht aus, wenn er in einem natürlichen Sinn vorsätzlich gehandelt hat.
Rz. 932
Über eine schwere Verfehlung des Unterhaltsgläubigers gegen den Unterhaltsschuldner oder einen seiner nahen Angehörigen hinaus ist daher eine umfassende Abwägung aller maßgebenden Umstände des jeweiligen Einzelfalles erforderlich, die auch das eigene Verhalten des Unterhaltsschuldners angemessen berücksichtigt.
Rz. 933
Praxistipp
Bei der Billigkeitsabwägung im Rahmen der Unterhaltsverwirkung nach § 1611 BGB ist der Umstand, dass das unterhaltsberechtigte, volljährige Kind sich noch in der allgemeinen Schulausbildung befindet, besonders zu berücksichtigen.
Rz. 934
Ein Fall der vorsätzlichen schweren Verfehlung ist die Verweigerung jeglichen Kontakts mit dem Unterhaltsschuldner. Ob und unter welchen Voraussetzungen die mangelnde Bereitschaft eines volljährigen Kindes zum persönlichen Umgangskontakt mit dem auf Unterhalt in Anspruch genommenen Elternteil als vorsätzliche schwere Verfehlung i.S.v. § 1611 Abs. 1 anzusehen sein kann, hängt von einer differenzierten Betrachtung und Bewertung der Entwicklung dieser Beziehung ab, wobei auch im Zusammenhang mit der Trennung und Scheidung der Eltern stehende Umstände zu berücksichtigen sind.