Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
a) Typischer Sachverhalt
Rz. 192
Beispiel
Der Arbeitgeber möchte in seinem Produktionsbetrieb ein Schichtsystem einführen, um die Maschinenlaufzeit zu erhöhen und so eine bessere Ausnutzung der Investitionen zu erreichen. Wegen der erfreulichen Auftragslage soll zudem die wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden auf 40 Stunden erhöht werden. Daneben soll in der Produktion kurzfristig am folgenden Samstag eine Sonderschicht eingeführt werden, um einen zeitkritischen Auftrag fristgemäß fertigzustellen. In der Verwaltung sollen die Mitarbeiter – insbesondere in der Auftragsannahme – auch außerhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit mobil erreichbar sein.
Der Betriebsrat ist mit diesen Plänen des Arbeitgebers nicht einverstanden. Allenfalls für die Sonderschicht am folgenden Samstag besteht die Bereitschaft, dieser zuzustimmen. Wegen des Freizeitverlustes für die Mitarbeiter (und der Wochenendeinschränkung) ist Voraussetzung für die Zustimmung eine ordentliche Zulage für die Mitarbeiter.
b) Erläuterungen
Rz. 193
Zur Arbeitszeit enthält § 87 Abs. 1 BetrVG zwei Mitbestimmungstatbestände. So erstreckt sich das Beteiligungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen und Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist vom Mitbestimmungsrecht die vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit erfasst. Nicht erfasst ist die generelle Festlegung der Dauer der Arbeitszeit. Hierzu fehlt dem Betriebsrat zumeist die Regelungskompetenz wegen Eingreifens des Tarifvorbehalts des § 77 Abs. 3 BetrVG (siehe hierzu auch Rdn 201). Zweck der Mitbestimmungstatbestände in § 87 BetrVG ist, dem Direktionsrecht des Arbeitgebers zum Schutz der Arbeitnehmer Schranken zu setzen. Der Betriebsrat soll der Berücksichtigung der Interessen der Arbeitnehmer an der Arbeitszeitlage und der Freizeit zur Gestaltung des Privatlebens Geltung verschaffen.
Rz. 194
Arbeitszeit im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG ist nach Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts zu definieren. Der Begriff ist nicht deckungsgleich mit dem der vergütungspflichtigen Arbeitszeit, dem des Arbeitszeitgesetzes oder der Arbeitszeitrichtlinie. "Arbeitszeit" im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne ist die Zeit, während der der Arbeitnehmer die von ihm in einem bestimmten zeitlichen Umfang tarif- oder einzelvertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbringen soll. Zu ihr gehören auch Zeiten der Arbeitsbereitschaft, des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft (siehe hierzu Rdn 203). Zeiten, in denen der Mitarbeiter außerhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit auf Anordnung seines Arbeitgebers mobil erreichbar ist, sind jedenfalls dann als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes zu werten, wenn der Mitarbeiter tatsächlich zwecks Arbeitserbringung tätig wird (d.h. z.B. Telefonate führt oder Emails mobil bearbeitet) und dieses Tätigwerden nicht bloß in jeder Hinsicht geringfügig ist.
Rz. 195
Ob Reise- oder Dienstreisezeiten unter diesen Arbeitszeitbegriff fallen, ist abhängig von der Ausgestaltung: Ein Rechtssatz, dass Reisezeit stets zu vergüten sei, besteht nicht. Reisen gehört (abgesehen von bestimmten Berufen wie etwa Reisebegleiter) in der Regel nicht zur vertraglichen Hauptleistungspflicht. Entsprechend gehört die hierfür aufzuwendende Zeit nicht zur Arbeitszeit im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Nicht mitbestimmungspflichtig ist eine Einschränkung der Freizeit durch Tätigkeiten, die keine Arbeitsleistung zum Gegenstand haben. Dabei ist zu differenzieren: Muss der Arbeitnehmer während der (Dienst)Reisezeit arbeiten, stellt dies Arbeitszeit dar – muss er nicht arbeiten, stellt dies nach der Rechtsprechung keine mitbestimmungspflichtige Arbeitszeit dar. Für Reisezeiten der Außendienstmitarbeiter, Zugbegleiter, Reiseleiter etc. gilt hingegen, dass die Reisetätigkeit Teil der vertraglich geschuldeten Leistung ist, denn andernfalls könnten sie ihre Arbeitsvertragspflichten nicht erfüllen. Entsprechend sieht die Rechtsprechung die Reisezeit des Außendienstmitarbeiters (z.B. vom Homeoffice) zum ersten Kundenbesuch ebenso als Arbeitszeit an, wie die Zeit der Rückreise vom letzten Kundenbesuch. Mitbestimmungspflichtige (Dienst)Reisezeiten liegen also vor, wenn die Fahrt an einen Ort außerhalb der regulären Arbeitsstätte erfolgt, an dem der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung erbringen soll. Die Mitbestimmungstatbestände des § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG erfassen also auch solche Reise- bzw. Dienstreisezeiten. Hiervon losgelöst ist die Frage zu entschieden, ob solche Reisezeiten zu vergüten sind. Nach der Rechtsprechung sind bei der Entsendung eines Arbeitnehmers zur vorübergehenden Arbeit ins Ausland auch die für die Hin- und Rückreise erforderlichen Zeiten wie Arbeit zu vergüten.
Rz. 196
Hingegen stellt der zeitliche Aufwand für das selbstbestimmte Zurücklegen des Weges zwischen einem selbst gewählten Aufentha...