Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 825
Die Entbindungsgründe sind in § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG abschließend aufgezählt:
(a) Mangelnde Erfolgsaussichten der Klage des Arbeitnehmers (Nr. 1)
Rz. 826
Verspricht die Kündigungsschutzklage nach summarischer Prüfung keine hinreichenden Erfolgsaussichten oder erscheint sie mutwillig, kann der Arbeitgeber auf seinen Antrag durch einstweilige Verfügung von der Weiterbeschäftigungsverpflichtung entbunden werden. Dabei ist Nr. 1 dem Wortlaut des § 114 ZPO nachgebildet, der die Gewährung von Prozesskostenhilfe regelt. Nach allgemeiner Auffassung kann daher auf die dort geltenden Grundsätze für die Beurteilung der Erfolgsaussichten zurückgegriffen werden. Mutwillig ist eine Klage danach, "wenn eine verständige Partei ihr[e] Recht[e] nicht in gleicher Weise verfolgen würde". Die Regelung ist eng auszulegen und auf Ausnahmefälle beschränkt. Der Arbeitgeber muss die entsprechenden Tatsachen glaubhaft machen.
(b) Unzumutbare wirtschaftliche Belastung (Nr. 2)
Rz. 827
Würde der Arbeitgeber durch die Weiterbeschäftigung unzumutbar wirtschaftlich belastet, kann dies auch Grund für seine Entbindung sein. Dabei ist hinsichtlich der unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung auf das Unternehmen und nicht auf den Betrieb abzustellen. Die Anforderungen an den Grad der Belastung sind hoch: Der bloße Umstand, dass die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers Vergütungsansprüche auslöst, genügt insoweit nicht. Da der Arbeitgeber im Falle der Weiterbeschäftigung im Gegenzug die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erhielte, werden die Voraussetzungen von Nr. 2 auch nur im Ausnahmefall vorliegen. Auch der bloße Fortfall des Arbeitsplatzes infolge der unternehmerischen Entscheidung reicht nicht. Vielmehr müssen die wirtschaftlichen Belastungen existenziell sein, der Arbeitgeber muss also darlegen, dass seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit durch die Lohnzahlungspflicht existenzgefährdend eingeschränkt ist. Drohen aufgrund der Weiterbeschäftigung Insolvenztatbestände (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, §§ 17 ff. InsO) – etwa bei gleichzeitig geltend gemachten Weiterbeschäftigungsansprüchen bei Massenentlassungen, §§ 17 ff. KSchG –, kann nicht etwa die Einbringung zusätzlicher Gesellschaftermittel verlangt werden, um die Insolvenzreife abzuwenden. Andererseits genügt auch nicht die bloße Verschlechterung der Gewinnsituation. Der Arbeitgeber ist im Rahmen des von ihm gestellten Entbindungsantrags zu konkreten und nachvollziehbaren Darstellungen der derzeitigen und absehbaren wirtschaftlichen Lage des Unternehmens (nicht des Betriebs) verpflichtet.
(c) Offensichtliche Unbegründetheit des Widerspruchs des BR (Nr. 3)
Rz. 828
Als dritten und letzten Entbindungsgrund sieht § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG die offensichtliche Unbegründetheit des Widerspruchs des BR vor. Nur wenn sich die Grundlosigkeit des formell ordnungsgemäßen Widerspruchs bei unbefangener Beurteilung geradezu aufdrängt, ist dieser aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen offensichtlich unbegründet. Dies ist der Fall, wenn der Äußerung des BR die Grundlosigkeit "auf die Stirn geschrieben steht". Die Unbegründetheit darf nicht erst nachträglich erkennbar sein; maßgeblich ist der Zeitpunkt der Erhebung des Widerspruchs.
Rz. 829
Offensichtliche Unbegründetheit des Widerspruchs des BR liegt insbesondere vor, wenn er sich nicht auf einen der in § 102 Abs. 3 Nr. 1–5 BetrVG abschließend aufgezählten Widerspruchsgründe bezieht. Auch wenn der Arbeitgeber glaubhaft machen kann, dass die vom BR vorgebrachten Widerspruchsgründe tatsächlich nicht vorliegen, kann der Widerspruch offensichtlich unbegründet sein. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der BR auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten in einem anderen Konzernunternehmen verweist (und keine Konzernversetzungsklausel vereinbart ist) oder die behauptete Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG nicht existiert. Auch wenn ein Widerspruch, der an formellen Mängeln leidet (etwa nicht fristgerecht erhoben oder nicht schriftlich mitgeteilt wurde) und daher unbegründet ist, an sich bereits keinen Weiterbeschäftigungsanspruch i.S.d. § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG auslöst, besteht in diesen Fällen aus Sicht des Arbeitgebers gleichwohl die Gefahr, einem Weiterbeschäftigungsverlangen des Arbeitnehmers ausgesetzt zu sein, sodass auch bei formell nicht ordnungsgemäß erhobenem Widerspruch des BR die Entbindungsmöglichkeit nach § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG besteht. Allerdings fehlt es am Rechtschutzbedürfnis des Arbeitgebers, solange der Arbeitnehmer seine Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 BetrVG nicht verlangt hat.