Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
a) Typische Sachverhalte
Rz. 542
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Die Aufsichtsbehörde beanstandet die fehlende Aktualität vorhandener Gefährdungsbeurteilungen zu physischen Belastungen. |
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Der Betriebsrat verlangt Einsicht in die Pläne zur Erweiterung der Lagerhallen und fordert vor Baubeginn die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung. |
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Der Arbeitgeber plant im Zuge der Digitalisierung der Produktion eine Umstellung der Montagelinien, die Einführung eines Werkstattsteuerungssystems, eine damit einhergehende Investition in digital steuerbare Maschinen und die Einführung von Wearables. Der Betriebsrat verlangt Auskunft nach § 90 Abs. 1 BetrVG und weist auf die Notwendigkeit einer Betriebsvereinbarung zur Gefährdungsbeurteilung im Hinblick auf die geplante Produktionsumstellung hin. |
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In der Fertigung fallen Überstunden durch Schichtverlängerungen und Sonderschichten an. Über das vereinbarte Schichtende hinaus werden Arbeitsaufträge erledigt. Eine Zeiterfassung existiert nicht. Der Betriebsrat verlangt
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die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung, |
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die Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems. |
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Der Betriebsrat verlangt die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung zu psychischen Belastungen. |
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Der Betriebsrat verlangt angesichts eines hohen Krankenstandes die Einrichtung einer Einigungsstelle zum Abbau von Stressbelastungen durch Besetzungsregeln als Maßnahme des Gesundheitsschutzes. |
b) Struktur des Mitbestimmungstatbestands in § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG
Rz. 543
Soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, bestimmt der Betriebsrat mit über Regelungen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften. Die unter Rdn 542 genannten Sachverhalte zeigen, dass die Mitbestimmung des Betriebsrates nach Nr. 7 nahezu alle Bereiche des betrieblichen Lebens erfassen kann. Es wird ein "konturloses Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates" befürchtet, wenn der Arbeitgeber bei allen Maßnahmen auf Grundlage einer arbeitsschutzrechtlichen Generalklausel auf die Zustimmung des Betriebsrates angewiesen sei.
Rz. 544
Die Besonderheit des Mitbestimmungstatbestandes zum Gesundheitsschutz besteht darin, dass er anders als die übrigen Nummern des Kataloges in § 87 Abs. 1 BetrVG neben dem Tarif- und Gesetzesvorbehalt des Eingangssatzes von § 87 Abs. 1 BetrVG eine weitere Einschränkung durch die Worte "im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften" enthält. Anders als z.B. bei der Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) wird nicht jede Frage des betrieblichen Gesundheitsschutzes von dem Mitbestimmungstatbestand der Nr. 7 erfasst. Das Handlungsfeld des Betriebsrates im Gesundheitsschutz ist durch den Inhalt der jeweiligen Arbeitsschutzvorschrift im Hinblick auf Sachbereich, Inhalt und Niveau der zu treffenden Maßnahmen begrenzt. Die Grenzen der Mitbestimmung müssen aus den Rahmenregelungen abgeleitet werden.
Rz. 545
Der Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ist durch die unionsrechtlich veranlasste Änderung der deutschen Gesetzgebung erweitert worden. Während § 120a GewO dem Arbeitgeber lediglich auferlegte, Gesundheitsgefahren im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten zu vermeiden, will das ArbSchG vom 7.8.1996 den innerbetrieblichen Arbeitsschutz durch eine konsequent präventive Ausrichtung auf der Grundlage eines breiten Arbeitsschutzverständnisses, das auch Aspekte wie die menschengerechte Gestaltung der Arbeit umfasst, verbessern.
Rz. 546
Der Begriff "Gesundheitsschutz" wird im BetrVG nicht gesondert definiert. Er stimmt mit demjenigen in § 1 Abs. 1 ArbSchG überein. Erfasst werden Maßnahmen, die dazu dienen, die psychische und physische Integrität des Arbeitnehmers zu erhalten, der arbeitsbedingten Beeinträchtigungen ausgesetzt ist, die zu medizinisch feststellbaren Verletzungen oder Erkrankungen führen oder führen können. Erfasst werden auch vorbeugende Maßnahmen.
Rz. 547
Seit dem Beschluss des BAG vom 28.3.2017 ist gesicherte Rechtsprechung, dass sich auch bei weitgefassten Generalklauseln Umfang und Grenzen der Mitbestimmungsrechte aus den auszufüllenden Rahmenvorschriften ergeben, soweit sie eine Handlungspflicht des Arbeitgebers begründen: § 3 Abs. 1 ArbSchG verlangt vom Arbeitgeber erforderliche Maßnahmen zum Ausschluss oder zur Minimierung von Gefährdungen. Wenn Gefährdungen feststehen oder im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung festgestellt sind, sind angemessene und geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Das Mitbestimmungsrecht setzt keine konkrete Gesundheitsgefahr voraus.
Rz. 548
Der Mitbestimmungstatbestand greift ein, wenn die auszufüllende Gesetzesvorschrift unmittelbar oder mittelbar dem Gesundheitsschutz dient. Dies ist von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Rahmenvorschriften zur Gefährdungsbeurteilung. Z.B. führt eine Gefährdungsbeurteilung nicht unmittelbar zur Beseitigung oder Minimierung von festgestellten Gefährdungen, ermögli...