§ 2 Kollektivarbeitsrecht / (aa) Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen

Rz. 1057

Im Falle eines identitätswahrenden Übergangs eines Betriebs(teils) ist eine kollektivrechtliche Fortgeltung beim Erwerber ohne Transformation der Normen möglich.^[2660] Von einer solchen Wahrung der betrieblichen Identität ist zumindest auszugehen, wenn der Betrieb als Ganzes übergeht und nicht in eine fremde Betriebsorganisation eingegliedert wird;^[2661] im Falle von Betriebsteilen, wenn diese als eigenständige Betriebe fortgeführt werden.^[2662] Dies gilt auch, wenn beim Erwerber vorübergehend oder dauerhaft kein Betriebsrat gebildet wird.^[2663]

Veränderte Umstände im Unternehmen des Erwerbers können zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage einer Betriebsvereinbarung und einem damit einhergehenden Anpassungsanspruch der Betriebsparteien führen.^[2664] Existiert zum gleichen Regelungsgegenstand bereits eine Betriebsvereinbarung beim Erwerber, kommt es in der Regel zu einer Ablösung der Betriebsvereinbarung des Veräußererbetriebs durch die beim Erwerber geltenden Betriebsvereinbarungen.^[2665] Eine Ablösung kommt hingegen nicht in Betracht, wenn die beim Erwerber geltende Betriebsvereinbarung sachlich begrenzt ist und sich nicht auf neue Betriebe erstreckt^[2666] oder übernommene Arbeitnehmer nicht in den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung fallen.^[2667] Ob dies der Fall ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Die zur Ablösung führende Betriebsvereinbarung kann auch erst nach dem Betriebsübergang abgeschlossen werden.^[2668] Das BAG meint auch im Hinblick auf Betriebsvereinbarungen, weder aus der Scattolon-Entscheidung des EuGH^[2669] noch aus dessen Unionen-Judikat^[2670] folge ein allgemeines Verschlechterungsverbot.^[2671] Es bleibt abzuwarten, ob diese Sichtweise des BAG vor dem EuGH Bestand hat.^[2672]

Für die betriebliche Altersversorgung ist § 613a BGB Abs. 1 S. 3 BGB telelogisch zu reduzieren: Eine Betriebsvereinbarung des Veräußerers über betriebliche Altersversorgung wird nur bei Wahrung des sog. "Drei-Stufen-Schemas" durch eine Betriebsvereinbarung beim Erwerber abgelöst.^[2673] Auch eine Ablösung durch einen Tarifvertrag ist bei gleichem Regelungsgegenstand grundsätzlich möglich.^[2674] Bei Ablösung einer Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung ist dann nicht das "Drei-Stufen-Schema" zu beachten, sondern es gelten die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit.^[2675] Unsicherheiten über rechtliche Zweifelsfragen sollten durch eine trilaterale Überleitungsvereinbarung vermieden werden.^[2676]

Die Grafik gibt eine Übersicht^[2677] über mögliche Konstellationen und ihre Folgen:

Rechtliches Schicksal von Betriebsvereinbarungen im Falle eines Betriebsübergangs
	Identitätswahrender Übergang des Betriebs(teils), keine Eingliederung des Betriebs in die Betriebsstruktur des Erwerbers	Aufgabe der Identität des Betriebs	Art der Fortgeltung	Ablösungsmöglichkeiten[2678]
EinzelBV	X		Unmittelbare Fortgeltung, keine Transformation[2679]	Kollision mit Gesamt/KonzernBV des Erwerbers bei gleichem Regelungsgegenstand möglich; die Gesamt/KonzernBV des Erwerbers setzt sich durch[2680]
		X	Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre,[2681] Normen verlieren aber nicht "kollektiv-rechtlichen Charakter"[2682]	Liegt eine BV mit gleichem Regelungsgegenstand vor, geht diese nach § 613a Abs. 1 S. 3 BGB den transformierten Normen vor
GesamtBV	X		Übergang eines Betriebs: Unmittelbare Fortgeltung, GesamtBV wird zu EinzelBV[2683]	Kollision mit Gesamt/KonzernBV des Erwerbers bei gleichem Regelungsgegenstand möglich, die Gesamt/KonzernBV des Erwerbers setzt sich durch[2684]
			Übergang mehrerer Betriebe als Gesamtidentität: Unmittelbare Fortgeltung, GesamtBV bleibt GesamtBV[2685]
			Erwerber hat keine Betriebe und übernimmt alle Betriebe: Unmittelbare Fortgeltung, GesamtBV bleibt GesamtBV[2686]
		X	Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB[2687] mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre, Normen verlieren aber nicht "kollektiv-rechtlichen Charakter"[2688]	Liegt eine BV mit gleichem Regelungsgegenstand vor, geht diese nach § 613a Abs. 1 S. 3 BGB den transformierten Normen vor[2689]
Konzern – BV	X		Erwerber gehört Konzern an: Unmittelbare Fortgeltung der KonzernBV als KonzernBV[2690]	–
			Konzernfremder identitätswahrender Übergang eines Betriebs: Unmittelbare Fortgeltung, KonzernBV wird zu einer EinzelBV[2691]	Kollision mit Gesamt/KonzernBV des Erwerbers bei gleichem Regelungsgegenstand möglich, die Gesamt/KonzernBV des Erwerbers setzt sich durch[2692]
			Konzernfremder identitätswahrender Übergang mehrerer Betriebe (auf ein Unternehmen): Unmittelbare Fortgeltung, KonzernBV wird zur GesamtBV[2693]
		X	Wie im Falle von GesamtBVs	Wie im Falle von GesamtBVs

[2660] Eine Ausnahme bildet die sog. "unternehmensbezogene Betriebsvereinbarung", vgl. BAG 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, NZA 2003, 670; Moll/Cohnen, § 54 Rn 37; weitere Sonderfälle, in denen keine kollektivrechtliche Fortgeltung anzunehmen ist, sind der Rechtsformwechsel der Arbeitnehmervertretung und e...