Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 942
Liegt eine Betriebsänderung grds. vor, setzt das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG allgemein voraus, dass
▪ |
im Unternehmen i.d.R. mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden, |
▪ |
bereits ein Betriebsrat in dem Betrieb vorhanden ist, der von der Betriebsänderung betroffen wird und |
▪ |
es nicht um ein Tendenzunternehmen oder ein neu gegründetes Unternehmen geht, bei dem die Rechte des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG eingeschränkt sind. |
aa) Unternehmensgröße
Rz. 943
Maßgeblich für die Beteiligungsrechte des Betriebsrats ist also zunächst die Unternehmensgröße. Es kommt darauf an, dass im Unternehmen in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt werden. Leiharbeitnehmer sind bei der Ermittlung dieses Schwellenwertes zu berücksichtigen, wenn sie länger als drei Monate im Unternehmen eingesetzt sind, da sie dann gem. § 7 S. 2 BetrVG wahlberechtigt werden. Da § 111 BetrVG auf die Unternehmensgröße abstellt, ist es irrelevant, wie viele Arbeitnehmer der Betrieb hat, der von der Betriebsänderung betroffen ist.
bb) Vorhandensein eines Betriebsrats
Rz. 944
Die Interessenausgleichspflicht ist außerdem vom Bestehen eines Betriebsrats in dem Betrieb abhängig, der von der Betriebsänderung betroffen ist. Wird der Betriebsrat erst gewählt, wenn der Unternehmer schon mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, kann der gerade gewählte Betriebsrat die Beteiligungsrechte nach §§ 111 ff. BetrVG nicht mehr in Anspruch nehmen. Dies gilt auch dann, wenn der Unternehmer bei Beginn der Umsetzung der Betriebsänderung damit rechnen musste, dass ein Betriebsrat gewählt wird und die Zeit bis zu dessen Konstituierung absehbar ist. Denn es besteht für den Unternehmer keine generelle Verpflichtung, mit einer an sich beteiligungspflichtigen Maßnahme so lange zu warten, bis ein funktionsfähiger Betriebsrat gebildet ist.
cc) Sonderfälle
Rz. 945
Bei sog. Tendenzunternehmen – also Unternehmen, die unmittelbar und überwiegend politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerung dienen – sind die Beteiligungsrechte der §§ 111–113 BetrVG eingeschränkt (vgl. § 118 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Unternehmer in einem Tendenzbetrieb den Interessenausgleich mit dem Betriebsrat nicht versucht haben, um die Betriebsänderung umzusetzen. Er muss aber den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend über die geplante Betriebsänderung unterrichten und diese mit ihm im Hinblick auf die sozialen Folgen auch beraten und beim Abschluss eines Sozialplans mitwirken. Verletzt er diese Pflichten, hat der von der Betriebsänderung betroffene Arbeitnehmer einen Nachteilsausgleichsanspruch nach § 113 Abs. 3 BetrVG.
Rz. 946
Praxishinweis
Die häufig vertretene Auffassung, dass die Regelungen zum Interessenausgleich bei Tendenzbetrieben vollständig ausgeschlossen seien, ist vor dem Hintergrund der BAG-Rechtsprechung risikobehaftet. Will der Unternehmer Nachteilsausgleichsansprüche der Arbeitnehmer vermeiden, muss er den Betriebsrat wie in "normalen" Betrieben umfassend informieren und mit ihm die sozialen Folgen der geplanten Betriebsänderung beraten.
Rz. 947
Einen weiteren Sonderfall bei den wirtschaftlichen Beteiligungsrechten nach §§ 111 ff. BetrVG stellen neu gegründete Unternehmen dar: Bei diesen ist in den ersten vier Jahren seit der Gründung ein Sozialplan nicht erzwingbar (§ 112a Abs. 2 BetrVG). Hinsichtlich der Pflicht, einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat zu versuchen, ergeben sich aber keine Besonderheiten. Auch ein neu gegründetes Unternehmen darf mit der Betriebsänderung erst dann beginnen, wenn ein Interessenausgleich mit dem Betriebsrat ausreichend "versucht" wurde.