Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
Rz. 1047
Für die Frage der Fortgeltung von Tarifverträgen ist zwischen Verbands- und Firmentarifverträgen zu unterscheiden. Ferner ist von Belang, ob der Betriebsübergang im Wege der Gesamt- oder Einzelrechtsnachfolge erfolgt. Dabei ist, wie bei Betriebsvereinbarungen, eine nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB transformierte kollektivrechtliche Regelung auch im Nachhinein (z.B. durch Abschluss eines neuen Tarifvertrags oder durch eine erst nach dem Übergang eintretende beidseitige Tarifbindung) abänderbar. Gemäß § 613a Abs. 1 S. 2 BGB transformierte Normen gelten statisch mit dem Inhalt fort, den sie im Zeitpunkt des Betriebsübergangs hatten. Ist eine Dynamik im Tarifvertrag selbst angelegt, gilt diese allerdings fort. Firmentarifverträge können auch von Verbandstarifverträgen abgelöst werden. Eine Ablösung durch einen Tarifvertrag des Erwerbers nach § 613a Abs. 1 S. 3 BGB setzt sowohl eine beidseitige Tarifbindung als auch einen identischen Regelungsgegenstand voraus. Ein identischer Regelungsgegenstand wird von der herrschenden Meinung angenommen, wenn der Erwerbertarifvertrag für die gleiche Sachgruppe eine Regelung enthält. Nach der Rechtsprechung des BAG folgt weder aus der Scattolon-Entscheidung des EuGH noch aus der Unionen-Entscheidung des EuGH ein allgemeines Verschlechterungsverbot, d.h. die Ablösung erfolgt unabhängig davon, ob sich die Arbeitsbedingungen verbessern oder verschlechtern. Letztlich bleibt jedoch abzuwarten, ob sich auch der EuGH diesem Verständnis anschließt. Ob eine Ablösung durch zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs beim Erwerber nachwirkende Tarifverträge in Betracht kommt, hat das BAG offengelassen. Eine Ablösung der tariflichen Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung (sog. "Über-Kreuz-Ablösung") ist unzulässig. Da der Betriebserwerber nicht aufgrund des Betriebsübergangs zur Partei eines Tarifvertrages wird, kann eine Kündigung des Tarifvertrages nach Betriebsübergang auch nicht dem Erwerber gegenüber, sondern muss der anderen Tarifvertragspartei – dem Betriebsveräußerer – gegenüber erklärt werden. Eventuell fortgeltende kollektivrechtliche Regelungen sind ferner auch im Falle von Neueinstellungen, die zeitlich nach dem Betriebsübergang erfolgen, zu beachten.
Hinweis
Es bleibt ebenfalls abzuwarten, wie sich der durch das Tarifeinheitsgesetz eingeführte § 4a TVG auf die tarifvertragliche Situation beim Erwerber und Veräußerer nach einem Betriebsübergang auswirkt. Auch wenn § 613a Abs. 1 S. 2–4 BGB als speziellere Regelungen wohl § 4a Abs. 2 S. 2 TVG vorgehen werden, ist nicht auszuschließen, dass die tarifliche Situation beim Veräußerer oder Erwerber im Einzelfall künftig anders zu beurteilen ist.
Über die Fortgeltung nach bisheriger Rechtsprechung des BAG gibt folgende Graphik einen Überblick:
Rechtliches Schicksal von Tarifverträgen im Falle eines Betriebsübergangs |
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Art der Fortgeltung |
Ablösungsmöglichkeiten |
Verbandstarifvertrag |
Einzelrechtsnachfolge |
TV ist allgemeinverbindlich |
Unmittelbare Fortgeltung |
– |
Erwerber unterliegt selben tariflichen Geltungsbereich und ist Mitglied im selben Arbeitgeberverband |
Andernfalls |
Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre, Normen verlieren aber nicht "kollektiv-rechtlichen Charakter" |
H.M.: § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand |
Gesamtrechtsnachfolge |
Verschmelzung |
Mitgliedschaft im tarifschließenden Verband geht nicht auf Erwerber über, daher grds. Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB. Ausnahme: TV ist allgemeinverbindlich oder Erwerber unterliegt selben tariflichen Geltungsbereich und ist Mitglied im selben Arbeitgeberverband |
Je nach Fortgeltungsart wie im Falle der Einzelrechtsnachfolge |
Spaltung |
Firmentarifvertrag |
Einzelrechtsnachfolge |
Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre. Ausnahme: Erwerber vereinbart "Übernahme" mit der zuständigen Gewerkschaft |
H.M.: § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand. Außer es wird "Übernahme" vereinbart. |
Gesamtrechtsnachfolge |
Verschmelzung |
Erwerber tritt in den FirmenTV ein. Daher gelten die Normen unmittelbar fort. Erfolgt die Verschmelzung auf einen bestehenden Rechtsträger mit eigenen Arbeitnehmern, ist die Wirkung des FirmenTVs idR nicht auf die übergehenden Arbeitsverhältnisse beschränkt. |
– |
Spaltung |
Unmittelbare Fortgeltung nur, wenn der Spaltungs- und Übernahmevertrag dem Erwerber die Vertragsstellung aus dem FirmenTV zuweist. |
Fehlt eine Zuweisung, so gilt § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand |
Von der Transformation tarifrechtlicher Regelungen zu unterscheiden ist die Behandlung von vor dem Betriebsübergang entstandenen tariflichen Ansprüchen. Deren Rechtsnatur ändert sich durch den Betriebsübergang nicht, so dass z.B. ei...