Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 1058
Bezüglich der Fortgeltung von Tarifverträgen ist zwischen Verbands- und Firmentarifverträgen zu unterscheiden. Ferner ist von Belang, ob der Betriebsübergang im Wege der Gesamt- oder Einzelrechtsnachfolge erfolgt. Dabei ist, wie bei Betriebsvereinbarungen, eine nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB transformierte kollektivrechtliche Regelung auch im Nachhinein (z.B. durch Abschluss eines neuen Tarifvertrags oder durch eine erst nach dem Übergang eintretende beidseitige Tarifbindung) abänderbar. Gemäß § 613a Abs. 1 S. 2 BGB transformierte Normen gelten statisch mit dem Inhalt fort, den sie im Zeitpunkt des Betriebsübergangs hatten. Ist eine Dynamik im Tarifvertrag selbst angelegt, gilt diese jedoch fort. Firmentarifverträge können auch von Verbandstarifverträgen abgelöst werden. Eine Ablösung durch einen Tarifvertrag des Erwerbers nach § 613a Abs. 1 S. 3 BGB setzt sowohl eine beidseitige Tarifbindung (bzw. Geltung kraft staatlicher Anordnung) als auch einen identischen Regelungsgegenstand voraus. Ein identischer Regelungsgegenstand wird von der herrschenden Meinung angenommen, wenn der Erwerbertarifvertrag für die gleiche Sachgruppe eine Regelung enthält. Das BAG leitet, wie oben zu Betriebsvereinbarungen ausgeführt, weder aus der Scattolon- noch aus der Unionen-Entscheidung des EuGH ein allgemeines Verschlechterungsverbot ab, d.h. die Ablösung erfolgt unabhängig davon, ob sich die Arbeitsbedingungen verbessern oder verschlechtern. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich der EuGH diesem Verständnis anschließt. Ob eine Ablösung durch zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs beim Erwerber nur noch nachwirkende Tarifverträge in Betracht kommt, ließ das BAG offen. Eine Ablösung der tariflichen Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung (sog. "Über-Kreuz-Ablösung") ist unzulässig. Wird der Betriebserwerber nicht aufgrund des Betriebsübergangs zur Partei eines Tarifvertrags, kann eine Kündigung des Tarifvertrags nach Betriebsübergang nicht dem Erwerber gegenüber, sondern muss der anderen Tarifvertragspartei – dem Betriebsveräußerer – gegenüber erklärt werden. Eventuell fortgeltende kollektivrechtliche Regelungen sind auch im Falle von Neueinstellungen, die zeitlich nach dem Betriebsübergang erfolgen, zu beachten.
Hinweis
Es bleibt ebenfalls abzuwarten, wie sich der durch das Tarifeinheitsgesetz eingeführte § 4a TVG auf die tarifvertragliche Situation beim Erwerber und Veräußerer nach einem Betriebsübergang auswirkt. Auch wenn § 613a Abs. 1 S. 2–4 BGB als speziellere Regelungen wohl § 4a Abs. 2 S. 2 TVG vorgehen werden, ist nicht auszuschließen, dass die tarifliche Situation beim Veräußerer oder Erwerber im Einzelfall künftig anders zu beurteilen ist.
Über die Fortgeltung nach bisheriger Rechtsprechung des BAG gibt folgende Grafik einen Überblick:
Rechtliches Schicksal von Tarifverträgen im Fall eines Betriebsübergangs |
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Art der Fortgeltung |
Ablösungsmöglichkeiten |
Verbandstarifvertrag |
Einzelrechtsnachfolge |
TV ist allgemeinverbindlich |
Unmittelbare Fortgeltung |
– |
Erwerber unterliegt selben tariflichen Geltungsbereich und ist Mitglied im selben Arbeitgeberverband |
Andernfalls |
Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre, Normen verlieren aber nicht "kollektiv-rechtlichen Charakter" |
H.M.: § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand |
Gesamtrechtsnachfolge |
Verschmelzung |
Mitgliedschaft im tarifschließenden Verband geht nicht auf Erwerber über, daher grds. Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB. Ausnahme: TV ist allgemeinverbindlich oder Erwerber unterliegt selben tariflichen Geltungsbereich und ist Mitglied im selben Arbeitgeberverband. |
Je nach Fortgeltungsart wie im Fall der Einzelrechtsnachfolge |
Spaltung |
Firmentarifvertrag |
Einzelrechtsnachfolge |
Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB mit der Folge einer einjährigen Veränderungssperre. Ausnahme: Erwerber vereinbart "Übernahme" mit der zuständigen Gewerkschaft |
H.M.: § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand. Außer es wird "Übernahme" vereinbart. |
Gesamtrechtsnachfolge |
Verschmelzung |
Erwerber tritt in den FirmenTV ein. Daher gelten die Normen unmittelbar fort. Erfolgt die Verschmelzung auf einen bestehenden Rechtsträger mit eigenen Arbeitnehmern, ist die Wirkung des FirmenTVs i.d.R. nicht auf die übergehenden Arbeitsverhältnisse beschränkt. |
– |
Spaltung |
Unmittelbare Fortgeltung nur, wenn der Spaltungs- und Übernahmevertrag dem Erwerber die Vertragsstellung aus dem FirmenTV zuweist; ohne Zuweisung erfolgt Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB. |
Fehlt eine Zuweisung, so gilt § 613a Abs. 1 S. 3 BGB bei kongruenter Tarifbindung und gleichem Regelungsgegenstand |
Von der Transformation tarifrechtlicher Regelungen zu unterscheiden ist die Behandlung von vor dem Betriebsübergang entstandenen...