Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 155
Nach dem Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 ES BetrVG ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in den sozialen Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 Nr. 1–13 BetrVG dort ausgeschlossen, wo eine tarifliche Regelung besteht ("Tarifsperre").
Ob die tarifliche Regelung abschließend ist und damit das Mitbestimmungsrecht ausschließt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Verbleibt dem Arbeitgeber ein Regelungsspielraum, greift das Mitbestimmungsrecht ein. Besteht eine abschließende tarifliche Regelung, sind abweichende oder ergänzende Betriebsvereinbarungen nur zulässig, soweit der Tarifvertrag diese ausdrücklich zulässt (sog. Öffnungsklausel). Dabei verdrängt eine abschließende tarifliche Regelung, an die der Arbeitgeber gebunden ist, das Mitbestimmungsrecht insgesamt und nicht nur spezifisch auf die vom Tarifvertrag gebundenen Arbeitnehmer.
Rz. 156
Die tarifliche Regelung muss im relevanten Betrieb gelten. Anders als beim Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG setzt das Bestehen einer tariflichen Regelung i.S.d. § 87 Abs. 1 ES BetrVG weiter voraus, dass der Arbeitgeber an die tarifliche Regelung gebunden ist. Weder schließt die bloße Üblichkeit einer tariflichen Regelung das Mitbestimmungsrecht aus, noch ein nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkender Tarifvertrag. Auch ein nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses transformierter Tarifvertrag schließt die Mitbestimmung nicht aus. Auf die Tarifbindung der Arbeitnehmer kommt es nicht an. Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 BetrVG erhält also in Betrieben nicht tarifgebundener Arbeitgeber ein größeres Gewicht.
Rz. 157
Liegt eine soziale Angelegenheit des § 87 Abs. 1 Nr. 1–14 BetrVG vor, kommt es auf den Vorbehalt tariflicher Regelung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht an (sog. Vorrangtheorie). Vielmehr ist in den Regelungsbereichen des § 87 Abs. 1 BetrVG allein maßgeblich, ob eine abschließende tarifliche Regelung besteht, an die der Arbeitgeber gebunden ist. Fehlt eine solche (etwa weil der Arbeitgeber mangels Verbandsmitgliedschaft nicht an die tarifliche Regelung gebunden ist), können die Betriebsparteien die soziale Angelegenheit auch dann regeln, wenn diese Materie üblicherweise Gegenstand von Tarifverträgen ist. Die Mitbestimmungspflichtigkeit eines Teils der Regelungen führt aber nicht etwa dazu, dass der Tarifvorbehalt auch für die mitbestimmungsfreien Regelungen aufgehoben wäre – vielmehr reicht der Tarifvorrang nur soweit, wie eine auch mitbestimmungspflichtige soziale Angelegenheit vorliegt. Es ist im Zweifel auf den Schwerpunkt der zu regelnden Materie abzustellen.
Rz. 158
Hinweis
Nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Die Vorschrift soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gewährleisten. Dazu räumt sie den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsprärogative ein. Das Günstigkeitsprinzip findet auf das Verhältnis von Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag nach der Rechtsprechung keine Anwendung; nach der gesetzlichen Konzeption kann es nicht zu Überschneidungen kommen.
Anders als der Tarifvorrang nach § 87 Abs. 1 ES BetrVG greift die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG bereits ein, wenn der Betrieb vom räumlichen, betrieblichen, fachlichen und personellen Geltungsbereich des Tarifvertrages erfasst ist. Auf die Tarifbindung des Arbeitgebers kommt es für den Tarifvorbehalt nicht an. Es genügt, dass die Regelung der betreffenden Materie in Form eines Tarifvertrags in der entsprechenden Branche üblich ist. Auch im Fall mehrerer Tarifverträge, die den entsprechenden Betrieb räumlich und fachlich erfassen, entfaltet jeder von ihnen Sperrwirkung. Eine gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung über Regelungsgegenstände außerhalb des § 87 Abs. 1 BetrVG ist schwebend – oder endgültig – unwirksam. Denkbar ist in diesem Fall eine Umdeutung in eine Gesamtzusage. Hierfür müssen dann aber weitere Gesichtspunkte außerhalb der Betriebsvereinbarung vorliegen. Andernfalls ist nicht davon auszugehen, dass sich der Arbeitgeber auch bei unwirksamer Betriebsvereinbarung verpflichten wollte.