Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
aa) Kollektiver Bezug als Voraussetzung der Mitbestimmung
Rz. 145
Die überwiegende Anzahl der Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 BetrVG bezieht sich auf kollektive (generelle) Angelegenheiten und somit nicht auf (individuelle) Einzelfälle. Von diesem Grundsatz abweichende Ausnahmen, in denen auch die Regelung von Einzelfällen mitbestimmungspflichtig ist, finden sich in den Nr. 5 (Urlaub für einzelne Arbeitnehmer) und Nr. 9 (Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen).
Rz. 146
Soweit der kollektive Bezug Voraussetzung für das Eingreifen des Mitbestimmungsrechts ist, kommt es für die Abgrenzung maßgeblich darauf an, inwiefern sich eine Maßnahme abstrakt auf den ganzen Betrieb oder eine Gruppe von Arbeitnehmern oder einen Arbeitsplatz bezieht, und nicht auf einen Arbeitnehmer persönlich. Die Regelungsthematik muss sich unabhängig von der Person stellen. Um einen kollektiven Tatbestand handelt es sich also immer dann, wenn ein Regelungsproblem unabhängig von der Person und den individuellen Wünschen eines Arbeitnehmers besteht. Mitbestimmungsfrei ist daher nur die Umsetzung von Vereinbarungen, die den individuellen Besonderheiten einzelner Arbeitsverhältnisse Rechnung tragen und deren Auswirkungen sich auf das Arbeitsverhältnis gerade dieses Arbeitnehmers beschränken. Von untergeordneter Bedeutung für die Abgrenzung ist die zeitliche Dimension, d.h., ob es sich um eine auf Dauer angelegte Regelung oder um eine einmalige, kurzfristige bzw. nur über einen kurzen Zeitraum geltende Maßnahme handelt. Auch ein einmaliger Vorgang kann einen kollektiven Bezug haben. Ebenso wenig kommt es für die Frage, ob Maßnahmen oder Entscheidungen des Arbeitgebers einen kollektiven Bezug haben, auf die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer an. Diese stellt lediglich ein Indiz dar; entscheidungsrelevant sind hingegen allein Inhalt und Auswirkungen der Maßnahme.
Rz. 147
Hinweis
Ein kollektiver Bezug kann auch bei Sonderzahlungen wegen besonderer Leistungen bestehen, weil es hier stets des Vergleichs mit anderen Mitarbeitern bedarf, um den besonderen Leistungsbeitrag zu ermitteln. Gleiches gilt für eine Vielzahl individuell gewährter Boni. Regelmäßig stellt auch die Überstundenanordnung eine kollektive Maßnahme dar – auch wenn sie (ggf.) nur einen Arbeitnehmer betrifft.
Rz. 148
Hinweis
Ob insoweit allein die Tatsache, dass eine Vertragsbedingung in Gestalt eines Formulararbeitsvertrages vereinbart wird, für das Vorliegen des kollektiven Bezugs ausreicht, ist fraglich; denn angesichts der hohen Anforderungen, die das BAG an die individuelle Aushandlung i.S.d. §§ 305 ff. BGB stellt, ist das Fehlen eines solchen individuellen Aushandelns nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer Vereinbarung, die sich abstrakt auf eine Gruppe von Arbeitnehmern beziehen muss.
bb) Einschränkung und Erweiterung der Mitbestimmungsrechte
Rz. 149
Die Vorschrift des § 87 BetrVG ist insofern zwingend, als die notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten weder durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung, Betriebsabsprache noch Arbeitsvertrag aufgehoben oder eingeschränkt werden kann. Auch kann der Betriebsrat nicht auf die Ausübung seines Mitbestimmungsrechts gänzlich verzichten oder seine Mitwirkungsbefugnisse nach § 87 BetrVG auf den Arbeitgeber übertragen. Gleichwohl können sich Einschränkungen insoweit ergeben, als ein Tarifvertrag Regelungen enthalten kann, die das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats inhaltlich begrenzen (zu den Grenzen der Mitbestimmung vgl. unten Rdn 151 ff.).
Rz. 150
Das Gesetz lässt die Frage, ob sich die notwendige Mitbestimmung über die in § 87 Abs. 1 BetrVG genannten Angelegenheiten hinaus erweitern lässt, unbeantwortet. Unbedenklich ist dies zu bejahen, wenn in einem Tarifvertrag oder in einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nach § 88 BetrVG eine Angelegenheit geregelt und nur die Ausübung eines dem Arbeitgeber zustehenden Rechts an die Zustimmung des Betriebsrats geknüpft wird, ohne dass ein neuer Regelungsgegenstand geschaffen wird. Auch wird eine erweiterte Mitbestimmung durch Tarifvertrag überwiegend für zulässig erachtet, sofern es sich um einen Betrieb handelt, dessen Arbeitgeber tarifgebunden ist. Ob die Betriebsparteien darüber hinaus legitimiert sind, auch eine inhaltliche Erweiterung der Mitbestimmung durch Betriebsvereinbarung vorzunehmen, wird weiterhin sehr uneinheitlich beurteilt.