Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
aa) Zwingende Mitbestimmung – Mitbestimmung als Wirksamkeitsvoraussetzung – Rechtsfolgen eines Verstoßes
Rz. 167
Der Arbeitgeber kann eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme nach § 87 Abs. 1 BetrVG nur mit Zustimmung des Betriebsrats durchführen.
Rz. 168
Hinweis
Hierzu bedarf es der Entscheidung im Gremium nach ordnungsgemäßer Ladung, der Beschlussfähigkeit des Betriebsrats (§ 33 BetrVG) und der durch Abstimmung herbeigeführten Willensbildung. Eine nicht von einem wirksamen Betriebsratsbeschluss umfasste Erklärung des Vorsitzenden führt nicht zu einer wirksamen Betriebsvereinbarung. Allerdings besteht die Möglichkeit der Heilung durch spätere ordnungsgemäße Beschlussfassung und Genehmigung.
Offen ist derzeit, ob – wie von der bisher überwiegenden Meinung verlangt – die Beschlussfassung stets nur in einer Präsenzsitzung wirksam erfolgen kann, oder ob aufgrund der Corona-Pandemie – jedenfalls in den Fällen, in denen eine Präsenzsitzung (pandemiebedingt) nicht durchgeführt werden kann – Video- und/oder Telefonkonferenzen für die Durchführung einer Sitzung zur ordnungsgemäßen Beschlussfassung ausreichend sind.
Rz. 169
Gelingt eine Verständigung nicht und will der Arbeitgeber eine Regelung herbeiführen, bedarf es gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG der Anrufung der Einigungsstelle. Für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts reicht es insbesondere nicht, wenn der Betriebsrat zu erkennen gibt, er sehe kein Mitbestimmungsrecht, und dem Arbeitgeber in einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit ohne inhaltliche Mitgestaltung "freie Hand" gibt. In der Praxis dürfte die Handhabung in diesen Fällen aber eine andere sein und die tatsächliche Anrufung der Einigungsstelle eher die Ausnahme darstellen – was zur Folge hat, dass das Risiko aus der "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung" (siehe hierzu Rdn 171) beim Arbeitgeber verbleibt.
Rz. 170
Welche Rechtsfolgen ein mitbestimmungswidriges Verhalten des Arbeitgebers auslöst, der eine Maßnahme ohne Betriebsratsbeteiligung (bzw. ordnungsgemäße Beschlussfassung) durch (damit formunwirksame) Betriebsvereinbarung, einseitige Weisung oder Vereinbarung mit betroffenen Arbeitnehmern durchführt, ist durch das BetrVG (anders als etwa in §§ 101, 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG für personelle Angelegenheiten bzw. Kündigungen) nicht geregelt.
Rz. 171
Das BAG hat schon früh entschieden, dass – trotz des Fehlens einer gesetzlichen Sanktion – das mitbestimmungswidrige Verhalten des Arbeitgebers auf individualrechtlicher Ebene zur Unwirksamkeit aller mitbestimmungswidrigen Weisungen und Abreden zum Nachteil des Arbeitnehmers führt (sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung).
Rz. 172
Hinweis
Die beschriebene Rechtsfolge der individualrechtlichen Unwirksamkeit entfaltet insbesondere auf dem Gebiet der Entgeltgestaltung (einseitige Ablösung einer Vergütungsordnung, Widerruf von freiwilligen Zulagen) sowie der Arbeitszeit (einseitige Anordnung von Überstunden oder Kurzarbeit, einseitiger Wechsel in ein anderes Schichtmodell) hohe praktische Bedeutung.
Wichtig:
Eine nachträgliche Zustimmung des Betriebsrats heilt die Unwirksamkeit einer vom Arbeitgeber einseitig getroffenen Maßnahme nicht. Ob hieran – z.B. mit Blick auf die Einführung von Kurzarbeit in Zeiten der Corona-Pandemie so uneingeschränkt festgehalten werden kann, bleibt abzuwarten.
Rz. 173
Kollektivrechtlich führt ein Verstoß gegen die zwingende Mitbestimmung zu einem Anspruch des Betriebsrats gegen den einseitig handelnden Arbeitgeber auf Unterlassung der Maßnahme. Dieser betriebsverfassungsrechtliche Unterlassungsanspruch ergibt sich aus § 2 Abs. 1 i.V.m. § 87 BetrVG. Er kann auch im Wege der einstweiligen Verfügung nach § 85 ArbGG durchgesetzt werden. Wirkt die belastende Maßnahme fort, kann der Betriebsrat verlangen, dass sie rückgängig gemacht wird, da es um die Beseitigung eines betriebsverfassungswidrigen Zustandes geht. Besteht bereits eine Betriebsvereinbarung, kann der Betriebsrat auf deren Einhaltung klagen.
Rz. 174
Die Verletzung gesetzlicher Mitbestimmungsrechte führt nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Das BAG hatte die generelle Frage zunächst offen gelassen und entschieden, dass jedenfalls im Fall der nachträglichen Zustimmung des Betriebsrats zur Verwendung des mitbestimmungswidrig erlangten Beweismittels der ursprüngliche Verstoß gegen Mitbestimmungsrechte kein Beweisverwertungsverbot begründe. Später entschied das BAG dann, dass allein die Verletzung eines Mitbestimmungstatbestands oder die Nichteinhaltung einer Betriebsvereinbarung es nicht rechtfertige, einen entscheidungserheblichen, unstreitigen Sachvortrag der Parteien unberücksichtigt zu lassen. Auch die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung fordere dies nicht. Das Prozessrecht kenne kein "Sachvortragsverwertungsverbot".