aa) Sinn und Zweck des § 102 BetrVG

 

Rz. 725

Vor Ausspruch einer Kündigung hat der Arbeitgeber den BR des Betriebes anzuhören, in dem der zu kündigende Arbeitnehmer tätig ist. Die ohne BR-Anhörung erklärte Kündigung ist unwirksam. Das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG soll dem BR ermöglichen, ohne zusätzliche eigene Ermittlungen zu der beabsichtigten Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber aus Sicht der Arbeitnehmer Stellung zu nehmen, damit dieser etwaige Bedenken oder den Widerspruch des BR gegen die beabsichtigte Kündigung bei seiner Entscheidung berücksichtigen kann.[1744] Die Sanktion der evtl. Unwirksamkeit seiner Kündigung zwingt den Arbeitgeber, seiner Anhörungspflicht tatsächlich gerecht zu werden, da er andernfalls Gefahr läuft, dass die Kündigung von vornherein unwirksam ist.[1745]

 

Rz. 726

Nach Ansicht des BAG soll die Anhörung in geeigneten Fällen dazu beitragen, dass es gar nicht zum Ausspruch der Kündigung kommt.[1746] Sinn und Zweck des Anhörungserfordernisses ist also nicht die Wirksamkeitsüberprüfung der Kündigung durch den BR, sondern dessen Einflussnahme auf den Willensbildungsprozess des Arbeitgebers.[1747]

 

Rz. 727

Adressat der Anhörung zu einer Kündigung ist grundsätzlich der örtliche BR. Nur in seltenen Ausnahmefällen ist der Gesamtbetriebsrat Adressat für die Beteiligung bei personellen Einzelmaßnahmen wie der Anhörung nach § 102 BetrVG, wenn ein Arbeitnehmer mehreren Betrieben gleichzeitig zugeordnet, d.h. in diese eingegliedert ist.[1748] Hingegen ist der Gesamtbetriebsrat nicht bereits zuständig, wenn die Kündigung infolge einer Betriebsänderung auszusprechen ist, für die – ausnahmsweise – Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen mit dem Gesamtbetriebsrat zu führen waren. Etwas anderes gilt nur, wenn der zuständige örtliche BR seine Kompetenz im Einzelfall gemäß § 50 Abs. 2 BetrVG auf den Gesamt- oder Konzernbetriebsrat übertragen hat.[1749]

[1745] BR-Drucks 715/70, S. 72.
[1748] BAG 21.3.1996 – 2 AZR 559/95, NJW 1997, 410 ff. Rn 15 m.w.N.; GK-BetrVG/Raab, § 102 Rn 50 f.
[1749] Richardi/Thüsing, BetrVG, § 102 Rn 92.

bb) Anwendungsbereich

 

Rz. 728

Zwingende Voraussetzung der Anhörungspflicht ist die Existenz eines funktionsfähigen BR. Ein neu gewählter BR ist ab seiner Konstituierung bei der Kündigung von Arbeitnehmern des Betriebes nach § 102 BetrVG zu beteiligen.[1750] Die Pflicht zur Anhörung besteht auch im Falle eines Übergangsmandats nach § 21a BetrVG, sofern der Betrieb nicht in einen Betrieb mit BR eingegliedert wird, und im Rahmen eines gemäß § 21b BetrVG bestehenden Restmandats.[1751] Auch ein wegen Verhinderungen beschlussunfähiger BR ist anzuhören, selbst wenn er der Kündigung nicht mehr wirksam widersprechen kann. Ob der Arbeitgeber bei bloß vorübergehender Funktionsunfähigkeit des BR rechtsmissbräuchlich handelt, wenn er eine Kündigung sofort ausspricht, ohne die Funktionsfähigkeit des BR abzuwarten, ist umstritten. Nach einer älteren Entscheidung des BAG aus dem Jahr 1984[1752] besteht die Anhörungspflicht erst ab Konstituierung des BR. Dagegen bejahen Teile der Literatur eine Beteiligungspflicht schon ab Bekanntgabe des Wahlergebnisses.[1753] Ob ein funktionsunfähiger BR anzuhören ist, ist noch nicht höchstrichterlich geklärt. Nach verbreiteter Auffassung soll aber die vorübergehende Verhinderung des Gremiums nicht zu Lasten des Arbeitgebers gehen, sondern die Anhörungspflicht entfallen lassen,[1754] mit einer Grenze bei rechtsmissbräuchlichem Zuwarten bis zur Funktionsunfähigkeit des BR.[1755] Wegen des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit könnte es dem Arbeitgeber zumutbar sein, mit dem Ausspruch der Kündigung abzuwarten, bis die Funktionsfähigkeit des BR (wieder-)hergestellt ist, sofern keine besonderen Gründe (etwa die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB) entgegenstehen.

 

Hinweis

In der Praxis empfiehlt es sich, zunächst ohne zeitliches Zuwarten und ohne Unterrichtung noch vor der Konstituierung bzw. während der vorübergehenden Funktionsunfähigkeit des BR zu kündigen, als auch erneut danach – nun aber nach vorheriger Anhörung des nunmehr existenten/funktionsfähigen BR.

 

Rz. 729

Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des einzigen BR-Mitgliedes kann, muss aber nicht zu dessen Verhinderung führen, denn Arbeitsunfähigkeit ist von Amtsunfähigkeit zu unterscheiden.[1756] Hat der Arbeitgeber den BR bereits in einer anderen Frage während der Erkrankung beteiligt, muss er ihn auch vor dem Ausspruch der Kündigung anhören. Jedenfalls liegt aber eine Funktionsunfähigkeit erst dann vor, wenn alle BR- und Ersatzmitglieder nicht nur kurzfristig, d.h. nicht nur für wenige Tage, an der Ausübung ihres Amtes verhindert sind.[1757] Ist der BR lediglich nicht mehr beschlussfähig, findet § 22 BetrVG entsprechende Anwendung, so dass der BR beschlussfähig ist, wenn mindestens die Hälfte der noch vorhandenen Mitglieder an der Beschlussfassung teilnimmt.[1758]

 

Rz. 730

Ist das BR-Büro vorüb...

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