Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
Rz. 910
Verstößt der Arbeitgeber im Rahmen der Sozialauswahl gegen eine wirksame Auswahlrichtlinie, ist die Sozialauswahl fehlerhaft und damit die Kündigung sozial ungerechtfertigt und unwirksam. Kollektivrechtliche Folge der Nichtbeachtung der Auswahlrichtlinie ist, dass der BR der Kündigung nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG widersprechen kann.
Tut er das, kann sich der Arbeitnehmer unmittelbar auf die Unwirksamkeit der Kündigung berufen, § 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1a KSchG. Auf Verlangen des Arbeitnehmers hin entsteht nach ordnungsgemäß erhobener Kündigungsschutzklage der betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG.
Kein Verstoß liegt vor, wenn Arbeitgeber und BR die Auswahlrichtlinie später oder zeitgleich – etwa bei Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste – ändern, indem sie sich in einem bestimmten Punkt gemeinsam über die Auswahlrichtlinie hinwegsetzen; in diesem Fall gilt die Namensliste.
Rz. 911
Von der fehlerhaften Anwendung einer Auswahlrichtlinie ist deren betriebsverfassungswidrige Anwendung zu unterscheiden, also der Fall, dass der Arbeitgeber eine Auswahlrichtlinie (etwa ein Punkteschema) anwendet, die er ohne Beteiligung des BR aufgestellt hat. Zum Teil wird insoweit vertreten, der Betriebsrat könne in dem Fall der Sozialauswahlentscheidung widersprechen. Nach anderer Auffassung hingegen ist die Auswahlrichtlinie wegen Verstoßes gegen § 95 BetrVG unwirksam, mit der Folge, dass sich auch der BR nicht auf sie zur Begründung seines Widerspruchs berufen könnte. Nach Auffassung des BAG steht dem BR ein Unterlassungsanspruch nach § 23 Abs. 3 BetrVG oder aus § 2 Abs. 1 i.V.m. § 95 Abs. 1 BetrVG gegen die Anwendung der Auswahlrichtlinie mittels Punkteschemas zu. Die Kündigung sei aber wirksam, denn eine dem § 102 BetrVG bzw. § 108 Abs. 2 BPersVG entsprechende Vorschrift existiert nicht. Auch kann die Sozialauswahl im Einzelfall dennoch (zufällig) wirksam durchgeführt worden sein kann. Der Unterlassungsanspruch kann mittels einstweiliger Verfügung durchgesetzt werden; er erfasst allerdings nur die Nichtanwendung der mitbestimmungswidrig aufgestellten Auswahlrichtlinie, nicht aber die Unterlassung des Ausspruchs betriebsbedingter Kündigungen.
Rz. 912
Handelt es sich um eine inhaltlich unwirksame Auswahlrichtlinie, folgt daraus nicht in jedem Fall die Unwirksamkeit der Kündigung, sondern zunächst nur die Anwendung der allgemeinen Regeln zur Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 KSchG. Die getroffene Sozialauswahl des Arbeitgebers unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle und nicht dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab der "groben Fehlerhaftigkeit" nach § 1 Abs. 4 KSchG.